Verborgene Macht
vermuten, dass er und der Amerikaner nicht viel füreinander übrig hatten.
»Wie soll das gehen?« Die Senatorin zuckte die Achseln. »Estelle Azzedine ist tot und begraben.«
Aber ihr Geist ist lebendig und putzmunter!
Beim Klang von Estelles Stimme zuckte Cassie zusammen. Aber niemand im Raum schien es zu bemerken. Nur Brigitte hatte die Augen zusammengekniffen.
Die Filmschauspielerin ergriff abermals das Wort. »Drücken wir es so aus: Irgendetwas ist schiefgelaufen. Wir wissen nicht, was. Aber ihr Fall ist doch wirklich faszinierend. Sollten wir uns nicht mit der Frage beschäftigen, wie wir helfen können? Schließlich ist nichts von alledem wirklich Miss Bells Schuld.«
»Das ist irrelevant«, sagte eine andere Frau. »Schuld ist nicht das Thema. Sie ist offenkundig gefährlich. Wir sind nicht hier, um eine Gruppentherapie für sie abzuhalten, damit sie sich anpassen kann - wir müssen dieses Problem schnell und entschieden lösen.«
»Lasst uns nichts überstürzen. Das Studium ihrer ... Fähigkeit könnte für uns alle durchaus von großer Bedeutung sein.« Vielleicht verspürte dieser Kabinettsminister eine Art nationaler Loyalität ihr gegenüber.
»Ob das nun stimmt oder nicht: Wir können das Risiko nicht eingehen.«
»Aber Sie würden das Risiko eingehen, sie zu bestrafen? Eine Unschuldige?«
»Wohl kaum unschuldig.«
»Der Zwischenfall in der Carnegie Hall war ein Desaster...«
»Das ist nicht wahr, die Schadensbegrenzung hat funktioniert. Die Angelegenheit ist vertuscht worden. Spenden an die richtigen Stellen.«
»Und nächstes Mal? Und übernächstes?«
»GENUG!«
Mühelos übertönte Brigitte die streitenden Stimmen. Stille senkte sich über den ganzen Raum. Cassie schluckte reflexartig. Brigitte dehnte das Schweigen in die Länge, bis die Luft vor Spannung förmlich knisterte. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme so weich und kühl wie Schnee.
»Das Mädchen ist gefährlich. Daran besteht kein Zweifel. Und sie kann sich nicht beherrschen. Auch daran besteht kein Zweifel. Wir tragen Verantwortung, meine Damen und Herren, nicht nur für die anderen Auserwählten, sondern auch für die Öffentlichkeit im Allgemeinen. Malen Sie sich die Konsequenzen aus, wenn sie jemanden tötet.« Wieder machte sie eine dramatische Pause, um ihren vernichtenden Worten größeres Gewicht zu verleihen. »Sie hat ein Mitglied der Auserwählten angegriffen. Und das in aller Öffentlichkeit. Außerdem darf ich den Rat vielleicht daran erinnern, dass sie ebenfalls für einen Angriff im letzten Trimester verantwortlich war, von dem meine eigene Tochter eine schreckliche Narbe davongetragen hat. Ich schlage vor, wir verweisen Miss Bell der Akademie ...«
»Ich schließe mich Brigitte an.«
Brigitte warf dem FBI-Mann einen leicht verärgerten Blick zu. »Danke, Vaughan, aber ich möchte dem Rat einen weiteren Vorschlag unterbreiten: Wir sollten Miss Bell zu ihrem eigenen Schutz wie auch zu unserem auf unbegrenzte Zeit in die Sichere Stätte einsperren.«
Cassie sprang auf, und durchbrach das schreckliche Schweigen mit einem empörten Luftschnappen. Was zum Teufel war die Sichere Stätte?
»Was wollen Sie ...«
»Bitte, setzen Sie sich, Miss Bell. Sie werden Ihre Situation durch eine weitere Zurschaustellung Ihrer Unfähigkeit, sich zu beherrschen, nicht verbessern.«
»Aber...« Verzweifelt sah Cassie der Reihe nach alle Ältesten an. Keiner der Anwesenden wollte ihr in die Augen schauen, nicht einmal diejenigen, die ihr bisher zur Seite gestanden hatten. »Sie können mich nicht ins Gefängnis werfen, das ist nicht...«
»Es ist fair, gerecht und vernünftig. Die Sichere Stätte ist kein Gefängnis. Nicht in dem Sinne, wie Sie das Wort verstehen.« Brigitte seufzte laut. »Es hätte sehr viel schlechter für Sie ausgehen können. Seien Sie dankbar für die Gnade des Rats.« Sie hob einen silbernen Hammer. »Also, wenn der Rat dem ohne Gegenstimmen beipflichtet, verfüge ich hiermit ...«
»Moment.«
Brigitte zögerte; ihr Hammer schwebte in der Luft und ihr Gesicht verdunkelte sich vor Wut. Cassie atmete erleichtert auf, ihre Muskeln zitterten. Sie sackte in ihrem Stuhl zusammen.
Sir Alric hatte sich zu Wort gemeldet. Endlich.
»Brigitte hat in einer Hinsicht recht. Wir wissen nicht, wozu Cassandra fähig ist. Keiner von uns weiß das, mich eingeschlossen.« Nachdenklich drehte er einen Stift in den Fingern und sah Cassie ohne zu lächeln in die Augen. »Aber darf ich
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