Verborgene Macht
zitterte vor Ärger. »Wenn der Singh-Junge sich nicht eingemischt hätte, wäre es meiner Tochter gelungen, das Halbblut-Miststück loszuwerden und es obendrein geschickt nach einem Unfall aussehen zu lassen.«
Cassie presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht laut nach Luft zu schnappen. Der »Unfall« in der Grand Central Station. Das war Katerina gewesen? Prompt kam es ihr nicht mehr gar so lächerlich vor, dass Jake den Entführer von Isabella auf Coney Island für Katerina gehalten hatte. Konnte das Brigitte gewesen sein? Aus der Ferne konnte man die beiden leicht verwechseln.
»Bringen Sie den Jungen heute Nacht wie gewöhnlich ins Cottage. Es ist viel zu lange her, seit die Lebende Erde das letzte Mal genährt wurde. Wenn wir ihr diesen Herumschnüffler geben, wird das eine gewisse Rache für das sein, was diese Bälger meiner Katerina angetan haben.« In einem seidenweichen Murmeln fügte sie hinzu: »Außerdem bin ich so brav gewesen, Vaughan. Ich habe das Recht auf eine kleine Sondervergünstigung...«
Ein Frösteln überlief Cassie. Sie hatte große Mühe still stehen zu bleiben. Die Lebende was?
Die Lebende Erde, Cassandra!
Estelles Stimme klang seltsam. Ungläubig? Erregt?
Entsetzt?
Was ist das, Estelle? Was ist die Lebende Erde?«, flüsterte Cassie.
Estelles Stimme war ein kehliges Murmeln:
Es gibt Gefängnisse, die viel, viel böser sind als die Sichere Stätte, meine Liebe...
KAPITEL 22
Cassie wartete erst gar nicht auf den Aufzug. Sie jagte durch das marmorne Atrium der Akademie, ignorierte die Blicke der anderen Schüler und riss noch im Rennen Handschuhe und Schal herunter. Sie lief zur Feuertreppe und nahm immer zwei Stufen gleichzeitig. Das ging schneller. Zumindest bei der Geschwindigkeit, mit der sie rennen konnte. Und sie musste rennen, um diese schreckliche Wut und Angst auszuschwitzen.
Ranjits Zimmer befand sich im vierten Stock, aber sie war kaum außer Atem, als sie es erreichte. Das hatte sie Estelle zu verdanken. Langsam wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich auf Estelle verließ. Wie sehr sie diesen mächtigen Geist brauchte und zu schätzen wusste.
Sie sparte sich die Mühe, anzuklopfen. Sie riss einfach die Tür auf und stürmte hinein. Ranjit zog gerade sein Hemd aus und die Dusche lief. Mit nichts anderem bekleidet als seiner Designer-Jeans sah er sie sprachlos an. Als er endlich lächelte, sah es gezwungen aus. So als versuche er, etwas zu überspielen.
Also, das ist zwar unerwartet, aber nett...« Mit einem Blick auf Cassies wütendes Gesicht verstummte er. Zitternd holte sie Luft. »Was war los?«
»Die Anhörung vor dem Rat der Ältesten. Ich weiß, dass sie heute Abend war...«
»Also, wo warst du, Ranjit? Ich habe auf dich gewartet!«
Er knüllte sein teures Hemd zu einem Ball zusammen und drehte ihn zwischen den Fingern. Sein Blick wanderte über ihre Schulter hinweg zur Tür und dann zurück zu ihr. »Es war... es hat sich etwas ergeben - etwas, wegen dem ich nicht kommen konnte, Cassie. Ich wollte es dir sagen, ehrlich, aber...«
»Das reicht nicht!« Sie war so wütend, dass sie nicht einmal weinen konnte. »Du hast es versprochen. Du hast gesagt, du würdest dort sein!«
»Und ich wollte auch dort sein, mehr als irgendetwas sonst. Bitte, Cassie, du musst mir glauben. Aber ich ...«
»Ich will es gar nicht hören. Ich will nicht hören, was wichtiger war, okay? Ich will nur, dass du weißt« — sie schluckte vernehmbar —, »dass du mich beinahe nicht wiedergesehen hättest.«
Ranjit ließ sich aufs Bett sinken und strich sich das Haar aus den Augen, während er zu ihr emporstarrte. Der Raum füllte sich mit Dampf, aber er machte keine Anstalten, die Dusche abzudrehen. »Was ist passiert?«, fragte er zittrig.
»Ms Brigitte Svensson hatte den Vorsitz«, zischte Cassie. »Und ich bin der Sicheren Stätte nur durch eine Stimme entgangen.«
»Cassie. Oh Gott, Cassie. Ich wusste nicht, dass sie den Vorsitz hatte. Man hat mir nicht gesagt... hör zu...«
»Nein! Ich will nicht zuhören. Du hast mich allein gelassen. Also, du bist mir einige Antworten schuldig, Ranjit. Die Sichere Stätte — was ist das?«
»Die Sichere Stätte...« Er stand auf und ging im Raum auf und ab. Sie konnte nicht umhin, ihn zu beobachten; ihr Blick wurde immer wieder von seinem feuchten, nackten Oberkörper angezogen. Gestern hätte sie sich noch wie eine Tigerin auf ihn gestürzt. Gestern hätte sie ihn bei lebendigem Leibe verspeist — so sehr hatte sie ihn
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