Verborgene Macht
es, eine Auserwählte zu sein, dachte sie dankbar: Sie war schnell. Schnell und beweglich. Ihr Herz hämmerte, als sie die Richtung wechselte und zwischen den Regalen hindurchsprintete.
In den tiefsten Schatten blieb sie stehen. Sie konnte sehen, wie Marat zwischen den Regalen nach ihr suchte. Sie hoffte, dass ihr eigener Herzschlag nicht so laut war, wie er ihr selbst vorkam.
Während sie sich einen Weg durch die Bücherregale bahnte, abwechselnd schlich und sprintete, schlug sie einen kunstvollen Bogen zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Als das vertraute Schild zum Büro des Kurators in ihr Blickfeld kam, hörte sie Marat nicht mehr. Mit angehaltenem Atem spähte sie in jeden Winkel, aber von Marat keine Spur. Das war beinahe zu einfach gewesen ...
Schwer atmend und mit rasendem Herzen schlich sie zurück zum Versammlungsraum des Rates. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie den Portier abgeschüttelt hatte, und sie bezweifelte, dass er zu den Ältesten hineinlaufen würde, um ihnen mitzuteilen, dass sie ihm entwischt war. Da wäre er bestimmt ganz schön in Schwierigkeiten geraten. Hoffentlich würde er darauf setzen, dass sie allein zur Akademie zurückfand. Wohin sollte sie auch sonst gehen?
Cassie drückte ein Ohr gegen die Tür, einmal mehr dankbar für den Geist, der Besitz von ihrem Körper ergriffen und ihr Gehör derart geschärft hatte. Deutlich konnte sie die erhobenen Stimmen der Ältesten hören. Sie war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um ihre Entscheidung mitzubekommen. Gerade so, aber Gott sei Dank war es ihr gelungen.
»Ruhe für die Entscheidung!« Wieder Brigittes Stimme, diesmal von kaltem Triumph erfüllt. »Mit einer Mehrheit von siebzehn Stimmen verfügt der Rat, dass Jake Johnson binnen der nächsten vierundzwanzig Stunden aus dem Gewahrsam des FBI geholt und in die Sichere Stätte gebracht wird.«
Was? Cassie konnte nicht glauben, was sie da hörte.
»Da alle Tagesordnungspunkte besprochen wurden und keine weiteren Angelegenheiten anstehen, erkläre ich diese Ratssitzung für beendet.« Der laute Schlag des silbernen Hammers ging Cassie durch und durch.
Schnell wich sie in die Dunkelheit zurück und betete, dass keiner der Auserwählten sich umdrehte, während sie einer nach dem anderen den Raum verließen. Nur gut, dass sie im Cranlake Crescent so viel Erfahrung darin gesammelt hatte, sich in dunklen Fluren zu verstecken. Keiner der Ältesten bemerkte sie, wie sie sich außerhalb des Lichtkreises der Wandlampen an die Wand drückte. Wahrscheinlich wäre keiner von ihnen auf die Idee gekommen, dass es jemand wagen würde, ihre noble Ratssitzung zu belauschen.
Ihr rutschte das Herz in die Hose, als sie die einzelnen Mitglieder aus der Nähe sah. Neben den Ältesten, die sie bereits erkannt hatte, entdeckte sie weitere bekannte Gesichter. Leute mit Macht, Leute mit Einfluss. Leute, die sie auf den Covern von Zeitschriften gesehen hatte. Mein Gott, dachte Cassie. Sollten sie sich jemals einmütig gegen sie wenden ...
Sie hatten sich gegen Jake gewendet. Sie würden ihn in die Sichere Stätte bringen.
Kein Gefängnis, hatte Brigitte gesagt. Nicht in dem Sinne, wie Sie das Wort verstehen.
Oh, Cassie vermutete, dass sie es nur allzu gut verstand
Nicht alle Ältesten hatten den Raum verlassen. Mindestens zwei fehlten noch und gerade die beiden durften sie auf keinen Fall sehen. Wahrend Cassie sich zwang, vollkommen reglos auszuharren und kaum zu atmen, hörte sie Brigittes sanfte Schneeflockenstimme.
»Also, Vaughan, sind die üblichen Maßnahmen getroffen worden?«
»Alles ist arrangiert. Der Junge wird sofort in die Sichere Stätte gehen. Soweit es den Rat betrifft, ist die Angelegenheit damit erledigt.«
Cassie stockte der Atem. Was bedeutete das: >Soweit es den Rat betrifft
»Gut«, sagte Brigitte. »Und keine Sorge - das System ist narrensicher. In all den Jahren, die ich für die Sichere Stätte verantwortlich war, haben die Ältesten sich nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht, nach ihren Gästen zu sehen. Ich habe Dutzende von ihnen genommen. Es wird Jahre dauern, bis jemandem auffällt, dass der Junge nicht dort ist — falls es überhaupt je jemandem auffallen wird.«
»Trotzdem werden sie wütend sein.« Vaughan klang nicht allzu besorgt; tatsächlich schien er eher belustigt.
»Vielleicht. Aber nicht wütender, als ich es bin. Das Mädchen, das meine Tochter angegriffen hat, hat heute Abend nichts weiter als einen Klaps auf die Hand bekommen.« Brigittes Stimme
Weitere Kostenlose Bücher