Verborgene Macht
massiver Stahl, aber er begann vor ihren Augen zu schmelzen. Verbog sich und warf Blasen, während das versilberte Glas wie Sirup zu fließen begann und sich mit dem Rahmen vermischte. Plötzlich sahen beide Mädchen nur noch verzerrte Versionen ihrer Selbst im Spiegel.
Entsetzt presste Cassie sich die Hände vors Gesicht und blinzelte verzweifelt gegen den roten Film vor ihren Augen an. Sie holte tief Luft, dann lief sie zum Spiegel und ließ die Hände über den geschmolzenen Rahmen, das verformte Glas und ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild wandern. Unter ihren Fingerspitzen schien die Glasscheibe zu zittern. Stirnrunzelnd nahm sie den Spiegel von der Wand und fuhr mit den Fingern über die Rückseite des Rahmens. Irgendetwas war dort angebracht, und als sie es mit den Fingerspitzen berührte, fiel es klirrend zu Boden.
»Da ist es«, flüsterte sie, hob das Messer auf und betrachtete seinen kunstvoll geschnitzten Griff.
»Okay.« Isabella verzog angewidert das Gesicht, als sie das brutale Messer musterte. »Was ist gerade passiert?«
Cassie sah kurz von der Klinge auf. »Macht ... macht es dir etwas aus, wenn wir nicht darüber reden würden?« Sachte strich sie mit dem Daumen über die ineinander verschlungenen Gestalten: die Meerjungfrauen, die Karyatiden und etwas, das halb Katze, halb Schlange war. Sie hätte schwören können, dass sie unter ihrer Berührung lebendig wurden, sich regten und reckten... Es fühlte sich beinahe so an, als gehöre das Messer in ihre Hand, auf ihre Haut, und irgendwo in ihrem Kopf hörte sie, wie Estelle einen wonnevollen Seufzer ausstieß.
Ist es nicht schön?
Cassie schauderte und schob das Messer in ihren Mantel.
»Ich mag das Ding nicht«, sagte Isabella.
Leicht verärgert mied Cassie Isabellas Blick. »Wir brauchen es.«
»Aber könntest du es benutzen?«
Cassie antwortete nicht.
Die Luft draußen war elektrisch aufgeladen. Ein Gewitter stand bevor. Cassie konnte die elektrische Ladung in der Luft schmecken, konnte spüren, wie die Spitzen ihrer Haare sich aufstellten. Während sie sich durch den Verkehr schlängelten und sich auf den Eingang zum Central Park an der 79th Street zubewegten, spürte sie, wie sich das Messer in ihrem Mantel warm an ihren Körper schmiegte. Isabella hatte recht - war sie wirklich bereit dazu? Könnte sie das Messer tatsächlich benutzen, wenn es so weit war?
»Hier entlang, Cassie!« Isabellas gedämpfte Stimme klang angstvoll gepresst.
Cassie schüttelte alle Zweifel ab und lief hinter ihrer Freundin her in die Dunkelheit und durch Pfützen von Licht, die die Straßenlaternen auf die 79th Street Transverse durch den Park warfen. Sie kannte diesen Weg: Sie war ihn schon einmal bei Tageslicht gelaufen, vor zwei Wochen, als sie am Wollman Rink Schlittschuhlaufen gegangen war, zusammen mit Ranj...«
Nicht jetzt, dachte sie und verbannte ihn aus ihrem Kopf.
Sie redete sich ein, dass sie keine Angst hatte, im Dunkeln unter der East Drive Brücke durchzulaufen — warum sollte sie auch Angst haben? Auf der anderen Seite sah sie Wasser schimmern. Ein ferner Blitz ließ den Turtle Pond für einen Moment wie einen Spiegel glänzen, dann schloss sich die Dunkelheit wieder über ihm. Sie spürte kalten Regen auf dem Gesicht. Der Wind schwoll an, konnte sie aber nicht aufhalten. Außer Puste war Isabella ein paar Schritte zurückgefallen, aber Cassie hatte das Gefühl, für immer weiterlaufen zu können.
»Ist es noch weit?«, brüllte sie.
»Gleich da!« Isabella kam stolpernd zum Stehen und hielt sie fest. »Das ist es — das Swedish-Cottage. Es ist ein Marionettentheater.«
Auf dem Dach des großen Holzgebäudes flatterten eine amerikanische und eine schwedische Fahne, nass und windgepeitscht.
Cassie stieß ein freudloses Lachen aus. Sie hätte sich denken können, dass Brigitte Jake nicht in eins ihrer eigenen Häuser bringen würde. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass Katerinas Familie irgendetwas Kleineres als eine Villa besaß.
Cassies Muskeln spannten sich an, während sie durch die Bäume auf das Cottage zuschlich. »Niemand zu sehen«, murmelte sie.
Jetzt hatte es ernsthaft zu regnen begonnen und die Tropfen brannten wie Eis auf ihrer Haut. Das Gebäude selbst war nicht erleuchtet, aber dahinter konnte sie einen schwachen Schimmer wahrnehmen. Sie kniff die Augen zusammen, zwang sich, leiser zu atmen. Durch den immer stärker wehenden Wind und das Trommeln des Regens hörte sie etwas.
Stimmen. Bewegungen. Das
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