Verbotene Früchte im Frühling
Ehrlichkeit kann im Geschäftsleben zuweilen eine Last sein.“
Ein Blitz zuckte vorbei, gefährlich nahe, und Marcus überkam eine düstere Vorahnung. „Das ist Wahnsinn“, murmelte er. „Sie müssen möglichst bald in einem Gasthaus anhalten, falls sie es überhaupt bis über Hampshires Grenzen hinaus schaffen. Einige der Bäche hier sind reißender als mancher Fluss. Wenn das Hochwasser kommt, werden die Straßen unpassierbar sein.“
„Das hoffe ich sehr“, erklärte Thomas Bowman energisch. „Nichts würde mir besser gefallen, als wenn Waring und seine beiden Dummköpfe gezwungen wären, mitsamt Swift nach Stony Cross Manor zurückzukehren.“
Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt und blieb dann abrupt stehen, während die Regentropfen wie Fausthiebe gegen die Außenwände trommelten.
„Was ist los?“ Bowman schob den Vorhang beiseite, um aus dem Fenster hinauszuspähen, konnte aber nichts sehen außer tintenschwarzer Nacht und dem Wasser, das in Rinnsalen über das Fenster strömte.
„Verdammt“, sagte Marcus.
Draußen klopfte jemand hektisch an die Tür, und dann wurde sie aufgerissen. Das bleiche Gesicht des Kutschers tauchte auf. Sein schwarzer Zylinder und der dunkle Umhang verschmolzen mit der Dunkelheit, sodass sein Kopf wie körperlos erschien. „Mylord“, stieß er hervor, „dort vorn hat es einen Unfall gegeben – Sie müssen kommen …“
Marcus sprang aus dem Wagen, und der Regen peitschte ihm mit erschreckender Heftigkeit eiskalt ins Gesicht. Er riss die Wagenlampe von der Halterung und folgte dem Kutscher zu einem Bach, der weiter vorn die Straße kreuzte.
„Gütiger Himmel“, flüsterte Marcus.
Die Kutsche mit Waring und Matthew hatte auf einer einfachen Holzbrücke angehalten, deren eine Seite sich vom Ufer gelöst hatte und nun diagonal über dem Bach hing. Die Macht des aufgrund des Unwetters reißenden Stroms hatte einen Teil der Brücke zum Einsturz gebracht, sodass die Hinterräder der Kutsche zur Hälfte im Wasser standen und das Pferdegespann vergeblich versuchte, den Wagen herauszuziehen. Die Brücke pendelte im Wasser hin und her wie ein Kinderspielzeug, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch vom anderen Ufer lösen würde.
Es gab keine Möglichkeit, die festgefahrene Kutsche zu erreichen. Die Brücke war auf dem diesseitigen Ufer losgebrochen, und jeder Versuch, den Strom zu überqueren, käme reinem Selbstmord gleich.
„Mein Gott, nein“, hörte Marcus Thomas Bowman entsetzt ausrufen.
Sie konnten nur hilflos zusehen, wie Warings Kutscher sich bemühte, das Gespann zu retten, und voller Panik das Geschirr von den Deichseln zu lösen versuchte.
Gleichzeitig wurde eine Tür des sinkenden Wagens aufgestoßen, und eine Gestalt begann, mit offensichtlicher Anstrengung herauszukriechen.
„Ist es Swift?“, wollte Bowman wissen und ging so nahe ans Ufer, wie er es nur wagen konnte. „Swift!“ Aber das Tosen des Sturms, das Rauschen des Stroms und das Knarren der zerberstenden Brücke verschluckten seinen Ruf.
Dann schien alles auf einmal zu passieren. Taumelnd gelang es den Pferden, von der Brücke aus das sichere Ufer zu erreichen. Eine Bewegung war auf der Brücke zu erahnen, eine oder zwei dunkle Gestalten, und mit einer Furcht einflößenden, beinahe majestätischen Langsamkeit glitt die schwere Kutsche ins Wasser. Halb schien das Gefährt darin zu versinken, gewann dann noch einmal ein wenig Auftrieb – doch dann erloschen die Wagenlampen ganz, als das Gefährt zur Seite gedreht und von dem reißenden Strom mitgerissen wurde.
Von unruhigen Gedanken getrieben, hatte Daisy nur in unregelmäßigen Abständen geschlafen. Mehrmals war sie in der Nacht aufgewacht und hatte sich gefragt, was wohl mit Matthew geschehen würde. Sie sorgte sich um sein Wohlergehen. Nur das Wissen, dass Westcliff bei ihm war – oder sich jedenfalls in seiner Nähe befand –, ließ sie einigermaßen die Fassung wahren.
Immer wieder durchlebte sie die Augenblicke im Salon, als Matthew endlich die Geheimnisse seiner Vergangenheit offenbart hatte. Wie verletzlich und einsam er ausgesehen hatte. Welche Last er all die Jahre mit sich herumgetragen hatte – und wie viel Mut und Erfindungsreichtum es erfordert hatte, sich selbst neu zu erschaffen.
Daisy wusste, dass sie es nicht lange aushalten würde, in Hampshire zu warten. Verzweifelt sehnte sie sich danach, Matthew zu sehen und ihn zu beruhigen, ihn gegen die ganze Welt zu verteidigen, wenn nötig.
Früher
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