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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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um sieben aufgestanden, vielleicht sogar früher. Er trat finster wie die Nacht ein und machte eine ungeschickte Verbeugung, worüber er sofort böse wurde, – natürlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Pulcheria Alexandrowna fiel über ihn buchstäblich her, packte ihn an beiden Händen und küßte sie ihm beinahe. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; dieses hochmütige Gesicht drückte aber in diesem Augenblick so viel Dankbarkeit und Freundlichkeit aus, eine so vollkommene und unerwartete Achtung ihm gegenüber (statt höhnischer Blicke und einer unwillkürlichen, schlecht verheimlichten Verachtung), daß es ihm wirklich leichter zumute gewesen wäre, wenn man ihn hier mit Schimpfworten empfangen hätte; so mußte er sich aber furchtbar genieren. Zum Glück hatte er ein fertiges Gesprächsthema, an das er sich auch sofort klammerte.
    Als sie hörte, daß er »noch nicht erwacht« sei, daß aber alles »vorzüglich gehe«, erklärte Pulcheria Alexandrowna, daß dies sogar gut sei, »denn sie habe mit ihm sehr vieles dringend zu besprechen«. Darauf folgte die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, ihn mit ihnen zu trinken; sie hatten in Erwartung Rasumichins noch selbst keinen getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziger und zerlumpter Bursche erschien, dem der Tee bestellt wurde; der Tee wurde schließlich serviert, doch so schmutzig und unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin schimpfte energisch auf diese möblierten Zimmer, verstummte aber und wurde verlegen, als er sich Luschins erinnerte; er war ordentlich froh, als Pulcheria Alexandrowna ihn mit ihren Fragen zu bestürmen begann.
    Diese Fragen beantwortend, sprach er dreiviertel Stunden, jeden Augenblick unterbrochen und wieder gefragt, und so teilte er ihnen die wichtigsten und notwendigsten ihm bekannten Tatsachen aus dem letzten Jahre des Lebens Rodions Romanowitschs mit und schloß mit einem umständlichen Bericht über dessen Erkrankung. Vieles verschwieg er, was auch wirklich verschwiegen werden mußte, unter anderem auch die Szene auf dem Polizeibureau mit allen Folgen. Seiner Erzählung lauschten sie gierig; als er aber schon glaubte, daß er zu Ende sei und seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie so gut wie noch gar nicht begonnen hatte.
    »Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, ich weiß noch immer nicht, wie Sie heißen!« fragte Pulcheria Alexandrowna hastig.
    »Dmitrij Prokofjitsch.«
    »Also Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr gerne wissen ... wie er überhaupt ... wie er jetzt die Dinge ansieht, das heißt, Sie müssen mich richtig verstehen, wie soll ich es Ihnen bloß sagen; was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche, wonach sehnt er sich, wenn man so sagen darf? Was hat jetzt auf ihn einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...«
    »Ach, Mamachen, wie kann man nur alle diese Fragen auf einmal beantworten!« bemerkte Dunja.
    »Ach, mein Gott, ich hatte gar nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu finden, Dmitrij Prokofjitsch.«
    »Das ist sehr natürlich«, antwortete Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich nicht, aber mein Onkel kommt jedes Jahr her und kann mich fast jedesmal nicht wiedererkennen, selbst äußerlich, und dabei ist er doch ein kluger Mensch! Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung ist doch viel Wasser ins Meer geflossen. Was soll ich Ihnen auch sagen? Ich kenne Rodion seit anderthalb Jahren: er ist finster, düster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht auch schon viel länger) argwöhnisch und ein Hypochonder, großmütig und gut. Er liebt es nicht, seine Gefühle zu zeigen, und ist eher bereit, grausam zu sein, als sein Herz durch Worte zu enthüllen. Manchmal ist er übrigens gar kein Hypochonder, sondern einfach unmenschlich kalt und gefühllos, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere abwechselten. Zuweilen furchtbar verschlossen! Nie hat er Zeit; immer stört man ihn, dabei liegt er aber da und tut nichts. Er ist nicht spöttisch, – nicht weil es ihm etwa an Witz mangelte, sondern als hätte er keine Zeit für solchen Unsinn. Er hört nie bis zu Ende, was man ihm sagt. Niemals interessiert er sich dafür, wofür sich die anderen interessieren. Er hält sehr viel von sich und hat wohl auch ein gewisses Recht dazu. Nun, was soll ich noch sagen? ... Mir scheint, daß Ihre

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