Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Häßliches verlieh. Die Wand mit den auf den Kanal hinausgehenden drei Fenstern durchschnitt das Zimmer irgendwie schief, und eine Ecke war daher sehr spitz und verlief in die Tiefe, so daß man in sie bei der schwachen Beleuchtung nicht mal ordentlich hinausschauen konnte; die andere Ecke war dafür häßlich stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer waren fast keine Möbel. In der Ecke rechts befand sich das Bett; neben ihm, näher zur Tür, stand ein Stuhl. An der gleichen Wand, wo das Bett war, standen dicht neben der Tür, die in die fremde Wohnung führte, ein einfacher ungestrichener Tisch mit einer blauen Decke und daneben zwei Rohrstühle. An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe des spitzen Winkels, stand eine kleine Kommode aus einfachem Holz, die wie im Leeren verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelblichen, schmierigen und abgerissenen Tapeten waren in allen Ecken schwarz geworden; im Winter war es hier sicher feucht und dunstig. Die Armut war ganz offensichtlich, selbst vor dem Bett war kein Vorhang.
Ssonja blickte schweigend auf ihren Gast, der so aufmerksam und ungeniert ihr Zimmer betrachtete, und fing sogar schließlich an, vor Angst zu zittern, als stünde sie vor einem Richter, vor einem, der über ihr Schicksal zu entscheiden hatte.
»Ich komme spät ... Ist schon elf?« fragte er, sie noch immer nicht ansehend.
»Ja, es ist schon elf«, murmelte Ssonja. »Ach ja, gewiß!« beeilte sie sich zu sagen, als wäre es ein Ausweg für sie. »Die Uhr bei den Wirtsleuten hat eben geschlagen ... ich habe es selbst gehört ... Es ist schon elf.«
»Ich komme zu Ihnen zum letztenmal,« fuhr Raskolnikow fort, »und wenn es auch das erste Mal ist, – ich sehe Sie vielleicht nie wieder ...«
»Reisen Sie fort? ...«
»Ich weiß nicht ... es wird sich morgen zeigen ...«
»So kommen Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna?« fragte Ssonja mit bebender Stimme.
»Ich weiß es nicht. Es wird sich morgen früh zeigen ... Aber es handelt sich jetzt nicht darum: ich komme, um Ihnen ein Wort zu sagen ...«
Er richtete auf sie seinen nachdenklichen Blick und merkte plötzlich, daß er saß, während sie vor ihm stand.
»Warum stehen Sie? Setzen Sie sich!« sagte er plötzlich mit veränderter, stiller und freundlicher Stimme.
Sie setzte sich. Er sah sie eine Minute lang freundlich und fast mitleidvoll an.
»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig ist sie. Die Finger wie bei einer Toten.«
Er ergriff ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.
»Ich war immer so«, sagte sie.
»Auch als Sie zu Hause lebten?«
»Ja.«
»Nun, selbstverständlich!« sagte er kurz, und sein Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.
Er sah sich noch einmal um.
»Sie mieten das Zimmer von Kapernaumow?«
»Ja ...«
»Wohnen die dort hinter der Tür?«
»Ja ... Sie haben das gleiche Zimmer.«
»Wohnen sie alle in einem Zimmer?«
»Ja, in einem.«
»In Ihrem Zimmer würde ich mich nachts fürchten«, bemerkte er düster.
»Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich«, erwiderte Ssonja, die immer noch nicht zu sich gekommen war und die Situation noch nicht erfaßt hatte. »Auch die Möbel und alles ... alles gehört den Wirtsleuten. Und sie sind sehr gute Menschen, und ihre Kinder kommen oft zu mir her ...«
»Die stotternden?«
»Ja ... Er stottert und hinkt auch noch. Auch seine Frau ... Eigentlich stottert er nicht, sondern spricht bloß nicht alles aus. Sie ist aber sehr gut. Er ist ein früherer Leibeigener. Es sind sieben Kinder da ... bloß der älteste stottert, die anderen sind aber einfach krank ... und stottern nicht ... Woher wissen Sie das von ihnen?« fügte sie mit einigem Erstaunen hinzu.
»Mir hat das damals Ihr Vater erzählt. Er hat mir alles von Ihnen erzählt ... Auch, daß Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun Uhr wiederkamen, und auch daß Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien lag.«
Ssonja wurde verlegen.
»Es schien mir heute, als hätte ich ihn gesehen«, flüsterte sie unentschlossen.
»Wen denn?«
»Den Vater. Ich ging über die Straße, dort, nebenan, an der Ecke, gegen zehn, und es war mir, als sähe ich ihn vor mir gehen. Er sah ganz so aus. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna hinaufgehen ...«
»Waren Sie spazieren gegangen?«
»Ja,« flüsterte Ssonja kurz, wieder verlegen und mit gesenkten Augen.
»Katerina Iwanowna hat Sie doch beinahe geschlagen, als Sie noch beim Vater lebten?«
»Ach
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