Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
gehen? Er begriff natürlich, daß Ssonjas Lage in der Gesellschaft eine zufällige war, wenn auch leider bei weitem keine vereinzelte und ausschließliche. Doch diese Zufälligkeit, ihre Bildung und ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt auf diesem häßlichen Wege töten müssen. Was stützte sie denn? Doch nicht das Laster? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch berührt; die echte Verderbtheit war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz gedrungen; das sah er; sie stand wie durchsichtig vor ihm ...
– Sie hat drei Wege vor sich – dachte er –, entweder in den Kanal zu springen, oder ins Irrenhaus zu kommen, oder ... oder sich schließlich ganz ins Laster, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert, zu stürzen. –
Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; er war aber schon skeptisch, er war jung, pflegte abstrakt zu denken und war folglich grausam; darum mußte er glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, der wahrscheinlichste sei.
– Aber ist es denn wirklich wahr?! – rief er innerlich aus, – wird auch dieses Geschöpf, das noch die Reinheit des Geistes bewahrt hat, sich bewußt in diese schreckliche, stinkende Kloake hineinziehen lassen?! Hat denn dieses Hineinziehen schon angefangen, hat sie es bisher vielleicht nur darum aushalten können, weil das Laster ihr nicht mehr so abscheulich schien? Nein, nein, es kann nicht sein! – wiederholte er vor sich hin, wie Ssonja früher. – Nein, vom Kanal hat sie bisher der Gedanke an die Sünde zurückgehalten und das Unglück jener ... Und wenn sie bisher noch nicht verrückt geworden ist ... Wer sagt aber, daß sie es noch nicht ist? Ist sie denn bei klarem Verstand? Kann man denn so sprechen, wie sie spricht? Kann man denn bei klarem Verstand so urteilen, wie sie urteilt? Kann man denn so über dem Abgrund, über der stinkenden Kloake, in die man schon hineingezogen wird, sitzen, abwehrend mit den Händen winken und sich die Ohren zuhalten, wenn man zu ihr von der Gefahr spricht? Wartet sie vielleicht auf ein Wunder? Es ist sicher so. Sind das nicht schon Anzeichen von Wahnsinn? –
Er klammerte sich hartnäckig an diesen Gedanken. Dieser Ausweg erschien ihm sogar besser als jeder andere. Er fing an, sie aufmerksam zu betrachten.
»Also betest du viel zu Gott, Ssonja?« fragte er sie.
Ssonja schwieg. Er stand neben ihr und wartete auf Antwort.
»Was wäre ich denn ohne Gott?« flüsterte sie schnell und energisch, indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen ansah und seine Hand fest drückte.
– Gewiß ist es so! – dachte er.
»Und was tut dir Gott dafür?« fragte er sie weiter aus.
Ssonja schwieg lange, als wüßte sie keine Antwort. Ihre schwache Brust hob und senkte sich vor Erregung.
»Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...« rief sie plötzlich und sah ihn streng und zornig an.
– Es ist sicher so! Es ist sicher so! – wiederholte er hartnäckig vor sich hin.
»Alles tut er!« flüsterte sie schnell und senkte wieder die Augen.
– Das ist der Ausweg! Das ist die Erklärung des Ausweges! – sagte er sich, indem er sie mit gierigem Interesse betrachtete.
Mit einem neuen, seltsamen, fast krankhaften Gefühl betrachtete er dieses bleiche, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, diese sanften blauen Augen, die in solchem Feuer, in so strengem, energischem Gefühl zu funkeln verstanden, diesen kleinen Körper, der noch immer vor Empörung und Zorn bebte, und dies alles erschien ihm immer sonderbarer, beinahe unmöglich. – Sie ist wahnsinnig, eine Närrin in Christo! – wiederholte er vor sich hin.
Auf der Kommode lag ein Buch. So oft er im Auf-und Abgehen vorbeikam, sah er es; jetzt nahm er es in die Hand. Es war ein Neues Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war alt und gebraucht, in Leder gebunden.
»Wo hast du es her?« rief er ihr vom anderen Ende des Zimmers zu.
Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck, drei Schritte vom Tisch.
»Man hat es mir gebracht«, antwortete sie unwillig und ohne ihn anzublicken.
»Wer hat es gebracht?«
»Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.«
– Lisaweta! Seltsam! – dachte er.
Bei Ssonja erschien ihm alles von Augenblick zu Augenblick sonderbarer und wunderlicher. Er ging mit dem Buch zur Kerze und begann darin zu blättern.
»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.
Ssonja blickte starr zu Boden und antwortete nicht. Sie stand seitwärts vom
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