Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Tisch.
»Wo steht es von der Auferstehung des Lazarus? Such es mir, Ssonja.«
Sie streifte ihn mit einem Blick.
»Sie suchen nicht an richtiger Stelle ... es steht im vierten Evangelium ...« flüsterte sie streng, ohne sich ihm zu nähern.
»Such es und lies mir vor«, sagte er. Er setzte sich, legte die Ellbogen auf den Tisch, stützte den Kopf in eine Hand, richtete den ernsten Blick zur Seite und schickte sich an, zuzuhören.
– Nach drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich glaube, ich komme auch selbst hin, wenn es nicht noch schlimmer wird – murmelte er vor sich hin.
Nachdem Ssonja den sonderbaren Wunsch Raskolnikows mißtrauisch angehört hatte, trat sie unentschlossen an den Tisch. Sie nahm aber das Buch in die Hand.
»Haben Sie es denn nicht gelesen?« fragte sie ihn, indem sie ihn über den Tisch finster ansah.
Ihre Stimme klang immer strenger und ernster.
»Vor langer Zeit ... Als ich noch lernte. Lies!«
»Haben Sie es denn nicht in der Kirche gehört?«
»Ich ... ich ging nie zur Kirche. Gehst du oft hin?«
»N-ein«, flüsterte Ssonja.
Raskolnikow lächelte.
»Ich verstehe ... Wirst also auch morgen zur Beerdigung des Vaters nicht hingehen?«
»Ich werde gehen. Ich war auch in der vorigen Woche da ... habe eine Totenmesse lesen lassen.«
»Für wen?«
»Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beil erschlagen.«
Seine Nerven wurden immer gereizter. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.
»Warst du mit Lisaweta befreundet?«
»Ja ... Sie war gerecht ... sie besuchte mich ... selten ... es ging nicht gut ... Wir lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen.«
So seltsam klangen diese aus den Büchern geschöpften Worte, und diese Neuigkeit: sie hatte mit Lisaweta irgendwelche geheimnisvolle Zusammenkünfte gehabt, und beide waren wahnsinnig, Närrinnen in Christo.
– Hier kann man selbst verrückt werden! Es ist ansteckend! – dachte er.
»Lies!« rief er plötzlich trotzig und gereizt.
Ssonja schwankte noch immer. Ihr Herz klopfte. Sie hatte keinen Mut, ihm vorzulesen. Fast mit Qual sah er die »unglückliche Verrückte« an.
»Warum wollen Sie es? Sie glauben doch nicht! ...« flüsterte sie leise und um Atem ringend.
»Lies! Ich will es so!« bestand er. »Du hast doch der Lisaweta vorgelesen.«
Ssonja schlug das Buch auf und fand die Stelle. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme versagte. Zweimal fing sie an und stockte immer beim ersten Wort.
»Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus von Bethanien ...« sagte sie endlich mit Anstrengung, doch beim dritten Wort erzitterte plötzlich ihre Stimme und riß wie eine überspannte Saite. Der Atem stockte, und die Brust schnürte sich zusammen.
Raskolnikow begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so roher und gereizter bestand er darauf. Er begriff zu gut, wie schwer es ihr jetzt fiel, das Eigene zu verraten und zu enthüllen. Er begriff, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres Geheimnis bildeten, daß sie vielleicht schon seit langem, seit der Kindheit, schon in der Familie neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, unter den hungrigen Kindern, den häßlichen Schreien und Vorwürfen gehegt hatte. Zugleich erfuhr er aber jetzt, erfuhr es ganz sicher, daß sie, so sehr sie sich auch grämte und etwas fürchtete, als sie jetzt zu lesen begann, dabei doch eine schmerzvolle Lust empfand, ihm vorzulesen, trotz ihres Grams und trotz aller Befürchtungen; und gerade ihm , damit er es höre, und unbedingt jetzt – was später auch kommen mochte! ... Er las es in ihren Augen, er erkannte es an ihrer verzückten Erregung! ... Sie überwand sich, überwand den Krampf im Halse, der am Anfang des Verses ihr die Stimme benommen hatte, und las weiter im elften Kapitel des Evangeliums Johannis. Und so kam sie bis zum 19. Vers:
»Und viel Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesus: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, das, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.«
Hier hielt sie wieder inne, da sie schamhaft ahnte, daß ihre Stimme wieder zittern und versagen würde ...
»Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er aufstehen wird in der Auferstehung am
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