Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
zerrissen.«
»Warum?« fragte Ssonja ganz bestürzt.
Ihre Begegnung mit seiner Mutter und der Schwester am Morgen hatte auf sie einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht, über den sie sich selbst nicht klar war. Die Nachricht vom Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.
»Jetzt habe ich dich allein«, fügte er hinzu. »Laß uns zusammen gehen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind zusammen verdammt und wollen nun auch zusammen gehen!«
Seine Augen funkelten. – Wie ein Verrückter! – dachte nun Ssonja ihrerseits.
»Wohin gehen?« fragte sie erschrocken und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Woher soll ich's wissen? Ich weiß nur, daß wir den gleichen Weg haben, das weiß ich sicher, und sonst nichts. Das gleiche Ziel!«
Sie sah ihn an und verstand nicht. Sie begriff nur, daß er entsetzlich, grenzenlos unglücklich war.
»Keiner von ihnen wird etwas verstehen, wenn du zu ihnen sprichst,« fuhr er fort, »ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, und darum bin ich zu dir gekommen.«
»Ich verstehe nicht ...« flüsterte Ssonja.
»Du wirst später verstehen. Hast du denn nicht dasselbe getan? Auch du hast es übertreten ... hast es übertreten können ... Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... dein Leben (es ist dasselbe!). Du hättest von Geist und Verstand leben können, du wirst aber auf dem Heumarkte enden ... Du wirst es aber nicht aushalten können, und wenn du allein bleibst, wirst du den Verstand verlieren wie ich auch. Du bist auch jetzt schon wie wahnsinnig: also müssen wir zusammen gehen, den gleichen Weg! Laß uns gehen!«
»Warum? Wozu das alles?« sagte Ssonja, durch seine Worte seltsam tief bewegt.
»Wozu? Weil es nicht so bleiben darf – dazu! Man muß doch endlich ernst und offen überlegen, statt wie ein Kind zu weinen und zu klagen, daß Gott es nicht zulassen werde! Nun, was wird sein, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Jene ist nicht bei Verstand und schwindsüchtig, sie wird bald sterben. Und die Kinder? Wird nicht auch Poljetschka zugrundegehen? Hast du denn hier an den Straßenecken nicht die Kinder gesehen, die von ihren Müttern zum Betteln geschickt werden? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter wohnen und wie sie leben. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist der Siebenjährige verdorben und ein Dieb. Die Kinder sind aber Abbilder Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind die künftige Menschheit ...«
»Was, was soll man tun?« fragte Ssonja, indem sie hysterisch weinte und die Hände rang.
»Was man tun soll? Was nötig ist, ein für allemal brechen und sonst nichts: und das Leid auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Wirst es später verstehen ... ... Die Freiheit und die Macht, vor allen Dingen die Macht! Die Macht über alle zitternde Kreatur und über den ganzen Ameisenhaufen ... Das ist das Ziel! Begreife das! Diese Worte gebe ich dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich jetzt zum letztenmal mit dir. Wenn ich morgen nicht komme, wirst du selbst alles hören, und dann gedenke meiner heutigen Worte. Und irgendwann, später, nach Jahren, wenn du noch länger gelebt hast, wirst du vielleicht begreifen, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen komme, so werde ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Lebe wohl!«
Ssonja erbebte vor Schreck am ganzen Leibe.
»Wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?« fragte sie, vor Entsetzen erschauernd und ihn wie wahnsinnig anblickend.
»Ich weiß es und werde es sagen ... Dir, nur dir allein. Ich habe dich auserwählt. Ich werde nicht zu dir kommen, um um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es einfach sagen. Ich habe dich schon längst auserwählt, um es dir zu sagen; damals noch, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, dachte ich es mir. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand. Morgen!«
Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Wahnsinnigen nach; sie war aber auch selbst wie wahnsinnig, und sie fühlte es. Der Kopf schwindelte ihr. – Mein Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuten diese Worte? Es ist so schrecklich! – Aber der Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Nein, er wollte nicht kommen! ... – Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester verlassen. Warum? Was ist geschehen? Und was hat er im Sinn? Was hat er ihr gesagt? Er hat ihr den Fuß geküßt und gesagt ... gesagt (ja, er hat es deutlich
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