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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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spürte er Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf der Stelle zu erwürgen. Er hatte schon beim Eintreten diese Wut gefürchtet. Er fühlte, daß seine Lippen ausgetrocknet waren, daß sein Herz klopfte und daß an seinen Lippen der Schaum trocknete. Und doch entschloß er sich, zu schweigen und kein Wort vor der Zeit zu sprechen. Er begriff, daß dies die beste Taktik in seiner Lage sei, weil er sich auf diese Weise nicht bloß nicht versprechen könne, sondern im Gegenteil den Gegner durch sein Schweigen reizen könnte, so daß vielleicht jener sich versprechen würde. Jedenfalls hoffte er darauf.
    »Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie denken, daß ich Ihnen harmlose Späße auftische«, fuhr Porfirij fort, immer lustiger werdend, vor Vergnügen ununterbrochen kichernd und dann wieder im Zimmer kreisend. »Sie haben natürlich recht; meine Gestalt ist schon von Gott selbst so geschaffen, daß sie nur komische Gedanken beim andern weckt; ein Hanswurst bin ich! Aber ich sage Ihnen noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen, Rodion Romanowitsch; Sie sind noch ein junger Mensch, stehen sozusagen in der Blüte des Lebens, und darum schätzen Sie, wie unsere ganze Jugend, den menschlichen Verstand über alles. Die pikante Schärfe des Geistes und die abstrakten Vernunftschlüsse reizen Sie. Es ist genau so wie zum Beispiel mit dem früheren österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über die kriegerischen Ereignisse zu urteilen vermag: auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangengenommen, in ihrem Schreibzimmer hatten sie alles auf die geistreichste Weise berechnet und ausgetüftelt – aber, sieh mal an: der General Mack ergibt sich mit seiner ganzen Armee, he-he-he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen, Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß ich, der ich Zivilist bin, lauter Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführe. Aber was soll ich machen, es ist eine Schwäche von mir, ich liebe die Kriegswissenschaft und lese leidenschaftlich gern alle die Kriegsberichte ... ich habe entschieden meinen eigentlichen Beruf verfehlt. Ich hätte doch wirklich im Militärressort dienen sollen. Zu einem Napoleon hätte ich es vielleicht nicht gebracht, aber zu einem Major ganz sicher, he-he-he! Nun will ich Ihnen, mein Bester, die ganze Wahrheit vom Einzelfall enthüllen; die Wirklichkeit und die Natur sind wichtige Dinge, verehrter Herr, und schmeißen zuweilen die scharfsinnigste Berechnung um! Hören Sie nur auf mich alten Mann, ich meine es ernst, Rodion Romanowitsch (der kaum fünfunddreißigjährige Porfirij Petrowitsch schien bei diesen Worten tatsächlich gealtert zu sein: selbst seine Stimme hatte sich verändert, und er selbst war wie eingeschrumpft); außerdem bin ich ein aufrichtiger Mensch ... Bin ich aufrichtig oder nicht? Wie glauben Sie? Ich meine doch, ich bin durchaus aufrichtig, wenn ich Ihnen solche Dinge umsonst mitteile und dafür sogar keine Belohnung verlange, he-he! Ich fahre also fort: Scharfsinn ist meines Erachtens eine ausgezeichnete Sache; er ist sozusagen eine Zierde der Natur, ein Trost des Lebens; er kann zuweilen solche Rätsel aufgeben, daß so ein armer Untersuchungsrichter unmöglich dahinter kommen kann; der wird ja außerdem auch von seiner eigenen Phantasie hingerissen, was doch immer der Fall ist, denn er ist doch auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran denkt aber nie die vom Scharfsinn hingerissene Jugend, ›die sich über alle Hindernisse hinwegsetzt‹ (wie Sie sich gestern so geistreich und scharfsinnig auszudrücken beliebten). Er wird vielleicht auch lügen, das heißt: der Mensch, der Einzelfall , das Inkognito wird lügen und wird es sogar ausgezeichnet und sehr schlau machen; nun sollte man meinen, er triumphiert und kann die Früchte seines Scharfsinns genießen, aber gefehlt! – an der interessantesten und skandalösesten Stelle fällt er in Ohnmacht. Allerdings ist er krank, in seinem Zimmer ist es wohl so dumpf, aber immerhin! Immerhin hat er einen Gedanken gegeben! Gelogen hat er unvergleichlich, hat aber nicht verstanden, die Natur mit in Betracht zu ziehen. Darin liegt eben die Tücke! Ein andermal läßt er sich von den Launen seines Scharfsinns hinreißen und beginnt, einen, der ihn verdächtigt, zum Narren zu halten: er erbleicht wie absichtlich, wie im Spiel, erbleicht aber gar zu natürlich , zu wahrheitsgetreu, und damit gibt er wieder einen Gedanken! Wenn es

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