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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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weiß ja, was mit einem Arrestanten geschieht, der einen Vorgesetzten mit bewaffneter Hand überfällt; so ›nahm er das Leiden auf sich‹. Nun habe ich auch den Mikolka in Verdacht, daß er ›das Leiden auf sich nehmen‹ will, oder etwas Ähnliches. Es ist ganz gewiß so, ich habe sogar Beweise dafür. Er selbst weiß nur nicht, daß ich es weiß. Was, Sie werden wohl nicht zugeben, daß aus solch einem Volke so phantastische Menschen hervorgehen können? Das sehen wir aber auf Schritt und Tritt. Der fromme Greis hat jetzt wieder Einfluß auf ihn: besonders nach dem Selbstmordversuch muß er wohl immer wieder an ihn denken. Übrigens wird er mir das alles selbst erzählen, er wird schon kommen. Sie glauben, er wird es aushalten können? Warten Sie nur, er wird schon widerrufen! Von Stunde zu Stunde warte ich, daß er seine Aussage zurücknimmt. Diesen Mikolka habe ich liebgewonnen und will ihn genau erforschen. Und was glauben Sie! He-he! Auf manche Punkte gibt er mir recht vernünftige Antworten. Offenbar hat er die nötigen Mitteilungen bekommen und hat sich geschickt auf alles vorbereitet; bei anderen Punkten blamiert er sich aber furchtbar, weiß gar nichts, hat keinen blauen Dunst und ahnt nicht mal, daß er keinen blauen Dunst hat! Nein, Väterchen Rodion Romanowitsch, Mikolka war es nicht! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne, zeitgemäße Sache, ein Fall, wo das menschliche Herz sich getrübt hat; wo die Phrase zitiert wird, daß das vergossene Blut ›erfrischt‹. Wo gepredigt wird, daß das Wichtigste im Leben der Komfort sei. Hier sind aus Büchern geschöpfte Gedanken, hier ist ein von Theorien gereiztes Herz; hier sieht man die Entschlossenheit zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besondrer Art, der Mensch faßt den Entschluß genau so, wie er von einem Berge herunterspringt oder sich von einem Glockenturme stürzt; er ist auch nicht mit eigenen Beinen zum Verbrechen gekommen. Er vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, hat aber einen Mord begangen, hat zwei Menschen ermordet, nach der Theorie. Er hat gemordet, hat aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, und was er in der Eile erwischt hat, das hat er unter den Stein getan. Es genügte ihm wohl nicht, daß er die Qual durchgemacht hat, als er hinter der Tür stand und man die Tür aufzubrechen versuchte und an der Klingel riß, – nein, er kam dann noch einmal in die leere Wohnung, halb bewußtlos, um die Klingel noch einmal zu hören; er hatte das Bedürfnis, wieder die Kälte im Rücken zu fühlen ... Nun, nehmen wir an, daß er das alles im krankhaften Zustande gemacht hat; aber noch eins: er hat den Mord begangen, hält sich aber für einen anständigen Menschen, verachtet alle, schwebt als bleicher Engel daher, – nein, es ist nicht Mikolka, liebster Rodion Romanowitsch, es ist nicht Mikolka!«
    Diese letzten Worte waren nach allem, was er früher gesagt und was wie eine Verleugnung des ursprünglichen Verdachts geklungen hatte, gar zu unerwartet. Raskolnikow erzitterte am ganzen Körper, wie von einem Pfeil getroffen.
    »Also ... wer hat dann ... gemordet? ...« fragte er mit erstickender Stimme, da er sich nicht länger beherrschen konnte.
    Porfirij Petrowitsch warf sich in die Stuhllehne zurück, als wären ihm diese Worte unerwartet gekommen und als hätte ihn die Frage überrascht.
    »Wer gemordet hat? ...« wiederholte er, als traue er seinen Ohren nicht. » Sie haben doch gemordet, Rodion Romanowitsch! Sie haben gemordet ...« fügte er fast im Flüstertone, vollkommen überzeugt hinzu.
    Raskolnikow sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden da – und setzte sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sein ganzes Gesicht zuckte wie im Krampfe.
    »Die Lippe zuckt ganz wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, scheinbar mit Teilnahme. »Sie haben mich, scheint es, nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer Weile hinzu, »und darum sind Sie so erstaunt. Ich bin ja gerade darum gekommen, um alles auszusprechen und die Sache ganz offen zu behandeln«.
    »Ich habe nicht gemordet«, flüsterte Raskolnikow wie ein erschrockenes kleines Kind, das man auf frischer Tat ertappt hat.
    »Doch, Sie waren es, Rodion Romanowitsch, nur Sie und niemand anders«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt.
    Beide schwiegen, und das Schweigen dauerte erstaunlich lange, fast zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich auf den Tisch gestützt und zerzauste sich schweigend mit den Fingern das Haar. Porfirij

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