Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
solche, für die, infolge ihrer hohen Stellung, das Gesetz nicht gilt, die vielmehr selbst die Gesetze für die übrigen Menschen, für das Material, für den Kehricht aufstellen. Die Theorie ist gar nicht übel, une théorie comme une autre. Napoleon hat ihn furchtbar begeistert, oder vielmehr die Überzeugung, daß sehr viele geniale Menschen das einzelne Verbrechen nicht als Übel ansahen, sondern sich darüber hinwegsetzten. Ich glaube, er hat sich eingebildet, daß auch er ein genialer Mensch ist, das heißt, er war wohl eine Zeitlang davon überzeugt. Er litt sehr und leidet auch jetzt noch unter dem Gedanken, daß er es fertiggebracht habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, sich, ohne nachzudenken, darüber hinwegzusetzen, daß er also kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann erniedrigend, und in unserer Zeit ganz besonders ...«
    »Und die Gewissensbisse? Sie sprechen ihm jedes sittliche Gefühl ab? Ist er denn so?«
    »Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich alles getrübt, das heißt, es war wohl nie in besonderer Ordnung gewesen. Die russischen Menschen sind überhaupt ›breite‹ Menschen, Awdotja Romanowna, so breit wie die Erde, und außerordentlich geneigt zum Phantastischen und Unordentlichen, es ist aber ein Unglück, ›breit‹ zu sein, ohne wirkliche Genialität zu besitzen. Erinnern Sie sich noch, wieviel wir beide in dieser Art und über das gleiche Thema gesprochen haben, so oft wir nach dem Abendessen auf der Gartenterrasse saßen? Sie haben mir damals diese ›Breite‹ vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sagten Sie das gerade in derselben Zeit, als er hier lag und das seinige dachte. Unsere gebildete Gesellschaft hat ja keine besonders heiligen Überlieferungen, Awdotja Romanowna; höchstens stellt sich jemand solche aus Büchern zusammen ... oder konstruiert sie aus alten Chroniken. Das sind aber doch meistenteils Gelehrte und, wissen Sie, in ihrer Art Schlafmützen, so daß es für einen Mann der Gesellschaft sogar unpassend ist. Übrigens sind Ihnen meine Ansichten überhaupt bekannt; ich klage absolut niemand an. Ich selbst bin ein Zärtling und Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, daß Sie sich für meine Ansichten interessierten ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!«
    »Ich kenne diese seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift gelesen, über die Menschen, denen alles erlaubt ist ... Rasumichin hat mir den Artikel gebracht.«
    »Herr Rasumichin? Einen Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Es gibt einen solchen Artikel? Ich wußte es gar nicht. Das muß aber interessant sein! Wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«
    »Ich will Ssofja Ssemjonowna sehen«, sagte Dunjetschka mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Vielleicht ist sie schon heimgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen, Sie soll ...«
    Awdotja Romanowna konnte nicht weitersprechen; ihr Atem stockte buchstäblich.
    »Ssofja Ssemjonowna wird vor Anbruch der Nacht nicht heimkommen. So glaube ich wenigstens. Sie mußte sehr bald zurückkommen, und wenn sie noch nicht da ist, wird sie erst sehr spät kommen ...«
    »Ah, du lügst also! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles gelogen! Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!« schrie Dunjetschka, die den Kopf verloren hatte, in einem echten Anfall von Raserei.
    Fast ohnmächtig fiel sie auf einen Stuhl, den ihr Swidrigailow eilig hinschob.
    »Awdotja Romanowna, was haben Sie, kommen Sie zu sich! Hier ist Wasser! Nehmen Sie einen Schluck.«
    Er spritzte sie mit Wasser an. Dunjetschka fuhr zusammen und kam zum Bewußtsein.
    »Die Wirkung war zu stark!« murmelte Swidrigailow vor sich hin mit finsterer Miene. »Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn retten, wir wollen ihm helfen. Wollen Sie, daß ich ihn ins Ausland bringe? Ich habe Geld, in drei Tagen verschaffe ich einen Paß. Und was den Mord betrifft, so wird er noch so viele gute Werke tun, daß alles vergessen sein wird, beruhigen Sie sich. Er kann auch noch ein großer Mann werden. Nun, was haben Sie? Wie fühlen Sie sich?«
    »Böser Mensch! Er spottet auch noch. Lassen Sie mich ...«
    »Wohin denn? Wo wollen Sie hin?«
    »Zu ihm. Wo ist er? Wissen Sie das? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir sind durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Wann haben

Weitere Kostenlose Bücher