Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
erfahren hatte, dass er zur Polizei gegangen war, hatte sie geglaubt, er wolle nur für sie einstehen. Doch nun, da sie die ganze Geschichte von Yukawa gehört hatte, schnitten Ishigamis Worte ihr noch tiefer ins Herz. Sie überlegte, ob sie zur Polizei gehen und alles sagen sollte. Aber das würde Ishigami nicht retten. Auch er hatte ja einen Menschen getötet. Ihr Blick blieb an der Schachtel haften, die Kudo ihr gegeben hatte. Sie öffnete sie und betrachtete den glitzernden Diamanten.
Vielleicht sollte sie Ishigamis Wunsch folgen und nach dem Glück greifen. Er schrieb ja, dass all sein Leiden umsonst wäre, wenn sie jetzt den Mut verlöre. Es war schwer, die Wahrheit zu verbergen. Konnte sie mit einem solchen Geheimnis überhaupt jemals glücklich werden? Sie würde bis zu ihrem Tod mit dieser Schuld leben müssen und niemals echten Frieden empfinden können. Aber vielleicht war dies ja auch eine Art der Buße. Sie steckte sich den Ring an den Finger. Der Diamant war wunderschön. Wie glücklich wäre sie, wenn sie sich unbeschwerten Herzens in Kudos Arme werfen könnte. Doch dieser Traum war unerfüllbar. Ihre Seele würde niemals frei sein.
Sie war gerade dabei, den Ring in die Schachtel zurückzustecken, als ihr Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer.
»Ja, bitte?«, sagte sie.
»Spreche ich mit Misato Hanaokas Mutter?«, fragte eine unbekannte Männerstimme.
»Ja. Ist etwas passiert?« Eine böse Ahnung stieg in ihr auf.
»Hier ist die Morita-Minami-Schule. Mein Name ist Sakano.«
Misatos Schule.
»Ist etwas mit Misato?«
»Ja, wir haben sie gerade hinter der Turnhalle gefunden. Offenbar hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
»Was?« Yasuko schlug das Herz bis zum Hals. Sie rang nach Luft.
»Sie blutete stark, und wir haben sie gleich ins Krankenhaus gebracht. Bitte regen Sie sich nicht auf, es besteht keine Lebensgefahr. Da es sich jedoch möglicherweise um einen Selbstmordversuch handelt, sollten Sie …«
Was der Mann sonst noch sagte, rauschte an Yasuko vorbei.
Die Wand, vor der Ishigami saß, war mit zahllosen Flecken bedeckt. Er wählte eine gewisse Anzahl von ihnen aus und verband sie durch direkte Linien. So entstand eine Grafik aus Drei-, Vier- und Sechsecken, auf die er als Nächstes vier Farben aufteilte. Keines der aneinander angrenzenden Felder durfte die gleiche Farbe haben. In weniger als einer Minute hatte er diese Aufgabe in Gedanken erledigt. Er löschte die Grafik aus seinem Gedächtnis und wiederholte das Gleiche, indem er andere Punkte auswählte. Es war eine höchst einfache Sache, aber er bekam sie nie satt. Und wenn das Vier-Farben-Problem ihn langweilte, konnte er die Flecken an der Wand auch für einen Satz aus der Analysis verwenden. Auch wenn es ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen würde, die Koordinaten aller Flecke an dieser Wand zu berechnen.
Eingesperrt zu sein, bedeutete keine besondere Härte für Ishigami. Solange er Papier und Stift hatte, konnte er an seinen mathematischen Gleichungen arbeiten. Selbst an Händen und Füßen gefesselt, könnte er im Geist weiterforschen. Auch wenn er nicht sehen oder hören konnte, sein Gehirn konnte niemand eingrenzen. Insofern lebte er in einem grenzenlosen Paradies. Die Mathematik war wie ein riesiges Erzvorkommen, und die Spanne des menschlichen Lebens war viel zu kurz, um ihre Schätze zu heben. Auch um Anerkennung war es ihm nicht zu tun. Gewiss hätte es ihm gefallen, Artikel zu veröffentlichen, die dann in Fachzeitschriften besprochen worden wären. Aber das hatte nichts mit dem wahren Wesen der Mathematik zu tun. Natürlich war es von Bedeutung, wer als Erster einen Gipfel erklomm, aber ihm hätte das Wissen genügt, es geschafft zu haben.
Ishigami hatte einige Zeit gebraucht, um diese Haltung einnehmen zu können. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte er in seinem Leben keinerlei Sinn mehr gesehen. Sein einziger Vorzug war seine mathematische Begabung, und wenn er auf diesem Weg nicht vorankam, war sein Dasein wertlos. Damals hatte er jeden Tag an den Tod gedacht. Niemand würde um ihn trauern oder auch nur betroffen sein, wenn er starb. Wahrscheinlich würde es nicht einmal jemand merken.
Vor etwa einem Jahr hatte sich dann Folgendes ereignet. Ishigami hatte ein Seil zur Hand genommen und nach einer Möglichkeit gesucht, es an der Decke seiner Wohnung zu befestigen, aber keine geeignete Vorrichtung gefunden. Schließlich schlug er einen dicken Haken in einen der Balken, hängte das Seil daran und
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