Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
vergewisserte sich, dass es sein Gewicht tragen würde. Der Balken knarrte, aber der Haken hielt, ohne sich zu verbiegen, und auch das Seil riss nicht. Ishigami empfandkein Bedauern. Er hatte zwar keinen bestimmten Grund, sich das Leben zu nehmen, aber auch keinen, es nicht zu tun. Als er auf dem Hocker stand und im Begriff war, sich die Schlinge um den Hals zu legen, läutete es an der Tür.
Ein schicksalhaftes Läuten.
Dass er es nicht ignorierte, hatte nur den einen Grund, dass er später nicht mehr gestört werden wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wer vor seiner Tür stand, aber es konnte sich ja um einen Notfall handeln.
Es waren zwei Frauen. Augenscheinlich Mutter und Tochter. Die Mutter stellte sich als neue Nachbarin vor. Auch das junge Mädchen verbeugte sich ein wenig. Der Anblick der beiden löste ein nie gekanntes Gefühl in Ishigami aus.
Sie hatten so wunderschöne Augen. Bisher hatte ihn Schönheit nie berührt. Auch für Kunst fehlte ihm jegliches Verständnis. Doch in diesem Moment begriff er, dass es sich hier um die gleiche Schönheit handelte, die sich ihm bei der Lösung mathematischer Aufgaben offenbarte. Er konnte sich später nicht mehr erinnern, was die beiden gesagt hatten. Doch die Lebhaftigkeit ihrer schönen Augen hatte ihn tief beeindruckt. Der Gedanke an Selbstmord war wie weggeblasen, und er hatte wieder Freude am Dasein. Allein sich vorzustellen, wo die beiden gerade waren und was sie taten, machte ihn glücklich. Yasuko und Misato waren nun zwei fixe Punkte in den Koordinaten seiner Welt. Ihm war, als wäre ein Wunder geschehen.
Am glücklichsten war er an den Sonntagen. Bei geöffnetem Fenster konnte er hören, wie die beiden sich unterhielten. Er konnte den Inhalt ihrer Worte nicht verstehen, aber die Stimmen, die der Wind ihm zutrug, klangen in seinen Ohren wie liebliche Musik.
Er hatte nicht die geringste Hoffnung, je eine Rolle inihrem Leben zu spielen. Nie durfte er die Hand nach ihnen ausstrecken. Es war das Gleiche wie mit der Mathematik. Er war glücklich, mit so etwas Erhabenem zu tun zu haben. Nach Erfüllung zu streben, verbot ihm der Respekt. Dennoch war es selbstverständlich für Ishigami, den beiden zu helfen. Ohne sie wäre er nicht mehr am Leben. Er musste sich opfern, als Gegenleistung sozusagen. Natürlich hatten die beiden keinen Anteil an all dem. Aber das machte ihm nichts aus. Manche Menschen retteten anderen nur durch ihre bloße Existenz das Leben.
Kaum hatte er Togashis Leiche erblickt, war der Plan in Ishigamis Kopf gereift.
Eine Leiche völlig verschwinden zu lassen war äußerst kompliziert. Ganz gleich, wie sorgfältig man vorging, die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung ließ sich nicht auf null reduzieren. Und selbst wenn es ihm mit etwas Glück gelänge, das Geschehene zu vertuschen, würden die Hanaokas niemals Ruhe finden und müssten ihr Leben in ständiger Angst verbringen. Allein der Gedanke an die Qualen, die sie zu erleiden hätten, war ihm unerträglich. Es gab nur ein Mittel, um die beiden davor zu bewahren. Er musste sie vollkommen aus der Sache herausbekommen. Auf den ersten Blick würde es so aussehen, als hätten sie etwas damit zu tun, aber dann sollte eine gerade Linie an ihnen vorbeiführen und jeder Verdacht sich als nichtig erweisen. Er beschloss, sich des »Ingenieurs« zu bedienen, des Obdachlosen, der sich unlängst an der Shin-Ohashi-Brücke niedergelassen hatte.
Am Morgen des 10. März ging Ishigami auf den Mann zu, der sich wie üblich in einiger Entfernung zu den anderen Obdachlosen hielt.
»Ich hätte einen Job für Sie«, sprach er ihn an. Er brauchejemanden, der für einige Tage ein Bauvorhaben am Fluss beobachte. Ihm sei aufgefallen, dass er wahrscheinlich früher als Ingenieur gearbeitet habe.
»Und wieso ich?«, hatte der Obdachlose misstrauisch gefragt.
Er befinde sich in einer heiklen Lage, erklärte Ishigami. Der Mann, der eigentlich für diese Tätigkeit vorgesehen gewesen sei, habe einen Unfall gehabt und falle nun aus. Er brauche dringend Ersatz, denn ohne einen Beobachter vor Ort, dürften die Arbeiten nicht aufgenommen werden. Als er dem Ingenieur einen Vorschuss von 50.000 Yen anbot, willigte dieser ein, und Ishigami brachte ihn in Togashis Pension. Dort ließ er ihn Togashis Kleidung anziehen und befahl ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Er hatte den Mann für den Abend zum Bahnhof Mizue bestellt. Zuvor hatte er in Shinozaki ein möglichst neues Fahrrad gestohlen, um sicherzugehen,
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