Verdammnis
fünfundzwanzig Jahre über das Rätsel nachgedacht, die letzten zehn Jahre mehr oder weniger von morgens bis abends.
Lisbeth Salander war völlig perplex.
Eigentlich interessierte sie die Antwort gar nicht. Es ging nur um die Problemlösung selbst. Wenn ihr jemand ein Rätsel vorsetzte, dann löste sie es. Bevor sie die Prinzipien verstanden hatte, dauerte es recht lange, bis sie die Zahlenrätsel lösen konnte, aber sie kam immer zur richtigen Antwort, bevor sie im Anhang mit den Lösungen nachsah.
Nachdem sie von Fermats Theorem gelesen hatte, nahm sie sich also ein Blatt Papier und fing an, Zahlen hinzukritzeln. Aber es gelang ihr nicht, Fermats Satz zu beweisen.
Sie weigerte sich hartnäckig, im Schlüssel nachzusehen, und übersprang daher den Abschnitt, in dem Andrew Wiles’ Lösung vorgestellt wurde. Stattdessen las sie die Dimensions zu Ende und stellte fest, dass ihr keine der anderen Problemstellungen, die in diesem Buch präsentiert wurden, mathematische Schwierigkeiten bereitete. Danach kehrte sie wieder zu Fermats Rätsel zurück und grübelte mit täglich wachsender Gereiztheit nach, welchen »wunderbaren Beweis« Fermat gemeint haben könnte. Sie stolperte von einer Sackgasse in die nächste.
Als der Mann aus Zimmer 32 plötzlich aufstand und zum Ausgang ging, blickte Lisbeth auf. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass er knapp zwei Stunden und zehn Minuten bewegungslos auf der Veranda gesessen hatte.
Ella Carmichael stellte das Glas vor Lisbeth Salander auf die Theke und wusste, dass der ganze Schickschnack mit rosaroten Drinks und albernen Papierschirmchen nichts für dieses Mädchen war. Lisbeth bestellte immer denselben Drink - Cola-Rum. Abgesehen von einem einzigen Abend, an dem sie von einer seltsamen Stimmung befallen wurde und zum Schluss so sternhagelvoll war, dass Ella einen Gehilfen bitten musste, Lisbeth nach oben auf ihr Zimmer zu tragen, trank sie normalerweise nur Caffè Latte, ab und zu einen einfachen Drink oder das heimische Bier Carib. Wie immer setzte sie sich an den äußersten rechten Rand der Theke und schlug ein Buch mit sonderbaren mathematischen Formeln auf, was Ella Carmichael als Lektüre für ein Mädchen ihres Alters höchst befremdlich fand.
Sie konnte auch feststellen, dass Lisbeth Salander anscheinend nicht das geringste Interesse daran hatte, sich aufreißen zu lassen. Die wenigen einsamen Männer, die einen Vorstoß gewagt hatten, waren freundlich, aber bestimmt abgewiesen worden. In einem Fall auch mal nicht so freundlich. Chris MacAllen, der sich eine brüske Abfuhr einhandelte, war aber auch ein ortsbekannter Schürzenjäger und konnte durchaus mal eine Tracht Prügel gebrauchen. Ella regte sich also nicht sonderlich auf, als er zufällig stolperte und in den Pool fiel, nachdem er Lisbeth Salander einen ganzen Abend lang genervt hatte. Man musste MacAllen jedoch zugutehalten, dass er nicht wirklich nachtragend war. Am nächsten Abend war er in nüchternem Zustand zurückgekommen und hatte Salander auf ein Bier eingeladen, das sie nach kurzem Zögern annahm. Bei weiteren Begegnungen an der Bar hatten sie sich dann jedes Mal höflich gegrüßt.
»Alles okay?«, erkundigte sich Ella.
Lisbeth Salander nickte und griff nach ihrem Glas.
»Neuigkeiten von Mathilda?«, wollte sie wissen.
»Immer noch auf dem Weg in unsere Richtung. Könnte ein richtig unangenehmes Wochenende werden.«
»Wann wissen wir Genaueres?«
»Eigentlich erst, wenn sie vorbeigezogen ist. Es kann gut sein, dass sie direkt auf Grenada zuhält und in letzter Sekunde beschließt, Richtung Norden abzudrehen.«
»Habt ihr hier oft Wirbelstürme?«
»Die kommen und gehen hier. Meistens ziehen sie vorbei - sonst gäbe es diese Insel schon lange nicht mehr. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Ich mach mir keine Sorgen.«
Plötzlich hörten sie ein etwas zu lautes Lachen und blickten zu der Dame aus Zimmer 32 hinüber, die sich anscheinend über eine Erzählung ihres Mannes amüsierte.
»Wer ist das eigentlich?«
»Dr. Forbes? Die beiden sind Amerikaner. Aus Austin, Texas.«
Ella Carmichael sprach das Wort »Amerikaner« mit einem gewissen Widerwillen aus.
»Ich weiß, dass sie Amerikaner sind. Aber was machen sie hier? Ist er Arzt?«
»Nein, nicht so ein Doktor. Er ist im Auftrag der Santa-Maria-Stiftung hier.«
»Was ist das denn?«
»Die bezahlen begabten Kindern hier die Ausbildung. Er ist ein netter Mann. Er verhandelt gerade mit
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