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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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morgen treffen wollen, im besten georgischen Restaurant der Stadt, alle, die Fedotows, mit Kind und Kegel, Issakow, die Fernsehleute. Gefilmt werde aber nicht. Nur noch Photos. Der eigentliche Höhepunkt sei ja heute gewesen. Der könne nicht mehr überboten werden. Auch müsse man nicht alles filmen, es sei ja ohnehin ein ziemlich starkes Stück, ihm ohne Vorankündigung auf die Pelle gerückt zu sein, ohne Kamera würden sie ungezwungener miteinander |199| umgehen können. Sowieso habe er das Gefühl, morgen einiges zu erfahren, was sie und er noch nicht wüssten. Übermorgen flöge er dann zurück. Aber morgen, morgen werde erst einmal gefeiert! »Na dann«, sagt sie, »viel Spaß.«
    Es klingt jetzt freier, viel freier, fast fröhlich, und Grüße an die Holländer, wie sie sagt, solle er auch ausrichten. Zu mehr Grüßen, denkt der Mann, reicht es aber doch noch nicht. Schließlich schiebt er es auf Mecklenburg und Pommern, von dort stammen ja ihre Eltern und Großeltern. Schon die Köpfe auf den Bildern der Altvorderen haben vieles erklärt, eine von ihnen wurde die stolze Auguste, die Krone von Damm, genannt. Er weiß, dass auch sein Kopf in diese Galerie passt.
     
    Spät schläft der Mann an diesem Tag ein. Oder ist es schon der nächste? Sie waren zuvor noch ein paar Stunden im Nachtclub des Hauses, haben wieder getrunken, wieder Billard gespielt und wieder den Tanzenden zugeschaut. Es gab nicht mehr viel zu sagen nach dem Ereignis; eher musste es beschwiegen werden, beschwiegen mit Hilfe des Gedröhns um sie herum, der stampfenden Rhythmen, des auf- und abschwellenden Stimmenchors der übrigen Nachtschwärmer, eines Stromes von Menschen, der nie zu versiegen schien, ganz gleich, um welchen Tag in der Woche es sich auch handelte. Es lenkte ab, übertönte, legte einen surrealen Schleier über jene seltsame Begegnung vor den Toren Moskaus, die natürlich trotzdem im Bewusstsein blieb mit ihren Bildfetzen und Tonspuren:
Über Wunder kann man nicht diskutieren
, hatte der Mann mitten im Discotrubel gedacht, den Satz dann aber doch für sich behalten und zu Regisseur und Kameramann gesagt: »Trinken wir noch einen? Ich zahle. Das ist mein Tag.« Aber der Regisseur hatte nur gelacht und gesagt: »Ich zahl’! Du bist morgen dran, morgen hast du uns alle am Hals, die ganze Bande! Du hast jetzt eine Großfamilie, Verehrtester, die reicht von Amsterdam über Hamburg bis Moskau.« »Schweden nicht zu vergessen«, sagte der Mann.
    |200| Irgendwann liegt er im Hotel am Roten Platz in seinem Bett und weiß nicht, ob er noch wach ist oder schon träumt. Aber was er gewahr wird in dieser Stunde zwischen den Zeiten, steht eigenartig klar vor seinen geschlossenen Augen, die zugleich weit geöffnet sind: Er sieht den PKW, in dem sie am frühen Abend von Schalikowo nach Moskau zurückgefahren sind, vor den Toren der riesigen Stadt an einem Punkt halten, an dem sie gar nicht gewesen sind, weil sie auf einer ganz anderen Straße unterwegs waren – an Kilometer 23 der Leningrader Chaussee in der Nähe des Flughafens Scheremetjewo, wo drei überdimensionale Panzersperren aus Stahlbeton in den Himmel ragen, die jene Linie symbolisieren, an der 1941 die deutschen Armeespitzen endgültig zum Stehen gekommen waren. Hier verlässt er den Wagen, geht ein Stück auf das Denkmal zu und steigt plötzlich, als wären ihm Flügel verliehen worden, auf – beginnt zu schweben, über der Szene zu kreisen. Dabei hört er eine Stimme, wieder und wieder, von der er nicht weiß, ist es die seine oder die eines anderen, den rätselhaften Satz sagen:
»Wenn der Sieg sich in die Niederlage verliebt, gebiert die Niederlage ein Kind des Sieges
.
«
Ich träum’ wohl nur, denkt der Mann, und denkt: Ich werde geträumt, und denkt: Wer träumt mich, wenn ich geträumt werde und träume, dass ich träume … Es ist der Schlaf, der reine Schlaf, in dem der Satz, der immer noch zu hören ist, sich schließlich wie ein nachlassendes, leiser und leiser werdendes Echo verliert. Der Schlaf seiner achten Nacht in der Stadt seines Vaters, der nun bezeugt hat, vor aller Welt: Ich
bin
es, und er ist mein Sohn.
     
    5. April 1999
    Die Welt hat sich nicht verändert. Eben bin ich aufgewacht, habe auf die Uhr geschaut und dann durchs Fenster nach draußen. Alles, was mich umgibt, im Zimmer wie vor dem Hotel, ist so wie gestern: Die Möbel sind braun, Vorhänge |201| und Bettdecke lachsrot, die Zwiebeltürme des von stark befahrenen Straßen eingeschnürten

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