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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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der gemeinsamen Sprache, doch meistens etwas anderes, einen Spitznamen, eine schräge Formel, eine verlegene Verrücktheit. Sie ist die Frau, die jenen Mann, den er vor Stunden zum ersten Mal in seinem Leben umarmt hat, vor einem halben Jahrhundert ebenfalls umarmte, aber anders. Anders fremd, anders vertraut, anders leidenschaftlich: seinen Vater. Und er wird ihr sagen müssen, was sie vielleicht in diesen Minuten am wenigsten hören will: dass alles gut sei. Denn sie ist immer noch eifersüchtig, und sie hat immer noch einen Verdacht, der auch nach den Informationen, die er ihr vorgestern gegeben hat, nicht ausgeräumt ist. Für sie. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagt sie nach wie vor oder deutet es an, manchmal nur mit einer Nuance in der Stimme, und meint, wie seit langem, jene letzte nächtliche Begegnung zwischen ihr und seinem Vater, vor Jahrzehnten, im Vernehmungszimmer des MGB am Sitz des sowjetischen Militärtribunals in Magdeburg, die den Offizier Wladimir Jegorowitsch Fedotow in voller Uniform zeigte, was ihr bewies, dass er, im Unterschied zu ihr, kein Gefangener war. Aber was war er dann gewesen? Ein Verräter, dem die Hände zitterten? Ein leichtsinniger Mensch, der |197| sich zur Unzeit irgendwem gegenüber verplappert und sie so ins Unglück gerissen hatte? Oder nur ein gutgläubiger, der einem Freund vertraute, der sein Freund nicht wirklich war? Und warum hatte ihr der Vernehmer danach gesagt, dass Wladimir fünfundzwanzig Jahre Sibirien bekommen hätte?
     
    Wenn sie wieder davon anfängt, denkt der Mann, wird er ihr sagen, lass doch endlich ab, die Welt ändert sich nicht nach rückwärts, aber nach vorne. Dein Misstrauen trifft einen alten Mann, den du einmal geliebt hast, da war er jung und in einem fremden Land, und hinter ihm lag der schlimmste aller Kriege, den er überstehen musste, vom eigenen Regime nicht zu reden. Er hat dich nicht betrogen mit einer anderen, das ist doch viel; der Rest ist Schicksal, Verhängnis, Stalin. War dir überhaupt bewusst, in welcher Zeit ihr eure Illusionen zu leben versucht habt? Lass ihm seine mögliche Schwäche, ich sag ja auch nicht, dass du naiv warst, als du Lübeck vorschlugst und ihn damit in ausweglose Unruhe stürztest, mindestens. Noch nach deinem Verschwinden, so hast du selbst mir einmal verraten, sei er im Dunkeln zu euch gekommen, habe ans Fenster geklopft und sich bei deiner Mutter, von der du es, als du aus Hoheneck wieder zurück warst, erfahren hast, nach meiner Schwester erkundigt, wie es ihr gehe, die er manchmal, wie ein stolzer Vater sein eigenes Kind, in aller Öffentlichkeit geschoben hat, in der Sportkarre, wenn ihr zum Strand unterwegs wart oder anderswohin. Das macht doch keiner, dem alles egal ist. Ob Glück im Unglück oder Unglück im Glück: Ihr habt überlebt. Ist das nichts?
     
    »Ich bin’s«, sagt der Mann.
    »Wo bist du?«
    »Na, wo«, sagt der Mann, »in Moskau.«
    »Und? Gibt es was Neues?«
    »Und ob«, sagt er. »Es hat geklappt.«
    »Ja?!«
    »Wir haben uns getroffen.«
    |198| »Schön.«
    »Natürlich«, sagt der Mann.
    »Na, bitte.«
    »Na, bitte?«, fragt der Mann zurück und denkt: Was soll das denn?
Kann
sie sich nicht freuen? Oder will sie es nicht?
    »Ja.«
    »Also das ist mir zu wenig, wenn du verstehst.«
    »Na ja, jetzt hast du doch, was du wolltest.«
    »Hab ich«, sagt er und fragt sich, was er machen muss, damit nun auch das Eis auf der anderen Seite des Zeitflusses bricht, wie er sie dazu kriegt, sich zu freuen, mitzufreuen, und hat im selben Moment eine Idee, sie ist doch eine Frau: »Er hat ja noch ganz schön Kraft«, fügt er an. John und die anderen seien ganz begeistert von ihm und seiner Erscheinung. Wie ein junger Hüpfer sei er die steile Treppe ins Dachgeschoss der Datsche emporgestiegen, wo er ihm die Räume und ihre hölzerne Verkleidung gezeigt und stolz darauf hingewiesen habe, dass er alles selbst gemacht hätte, zusammen mit den Jungs und guten Freunden. Und ein Glas Birkensaft habe er ihm zur Begrüßung auch gereicht. Selbst gezapft, von den Birken am Dorfrand. Russischer ginge es ja nun wirklich nicht.
    Einen langen Moment hört der Mann nichts, und dann, überraschend weich und stolz in einem:
»Er war ja auch damals schon ein toller Typ!«
Aha, denkt der Mann: Endlich! Endlich ist sie wieder eine Frau, seine Christa, mein Vater. Eigentlich müsste er jetzt laut lachen, ins Telefon hinein, bis nach Hamburg, direkt ins Ohr und Herz der Mutter. Aber dann erzählt er, dass sie sich

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