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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Zeit überhaupt nicht mehr. Die Sache ist folgende: Die Russen haben den Krieg praktisch allein geführt. Aber was ich nicht begreifen kann: Wieso haben fast alle Deutschen nach Gründung der sogenannten Demokratischen Republik das totalitäre Regime, wie es bei uns war, übernommen und akzeptiert?« Was kann man darauf antworten? Es könnte meine eigene Frage sein, auch wenn ich weiß, dass es 1945 für keinen Deutschen eine Wahl gab. Die Bücher, die zu antworten versuchen, sind nicht zu zählen. Auch ich habe darüber geschrieben. Immer wieder. Aber es wäre vermessen, wenn ich glaubte, mein Geschriebenes dazu sei eine Antwort, die Gültigkeit hätte über mich hinaus. Es ist nur
meine
. Gehen wir lieber trinken!
    »Lasst uns trinken«, sage ich, und dann stehen wir alle um den Tisch herum – nur Julia, Jurijs Tochter, Vaters Enkelkind, meine Nichte, eine von dreien, die ich seit gestern habe, hält Abstand und filmt uns –, heben die Hände mit den gefüllten Wodkabechern aus Plastik, und Vater sagt kurz, knapp, fast militärisch, als stünden sich offizielle Delegationen gegenüber: »
Auf das Treffen!«
Einer ruft:
»Gesundheit!«
Die Flüssigkeit in den mitgebrachten Bechern, die den Namen »НАША ВОДКА «, »Unser Wodka«, trägt, zieht ihre brennende Bahn durch Kehle und Speiseröhre, bis in den Magen. Aber zugleich wärmt dieses flüssige Feuer. Dazu gibt es ungesüßte Waffeln, auf die Sahne und Kaviar gestrichen werden. Auch Bier. Vor allem Jurij liebt Bier. Für Julia und ihre Freundin Schokolade. Vom ebenfalls mitgebrachten Whisky trinkt keiner. Die Flasche bleibt verschlossen. Vater, erinnere ich mich aus den Erzählungen von Mutter, hat sich, wenn sie zusammen waren, nie betrunken.
    |193| Später besichtigen wir auch das Obergeschoss der Datsche, deren grau verputzte Außenwände in scharfem Kontrast zu den holzverkleideten im Innern stehen, die Wärme ausstrahlen, Gemütlichkeit. Vater geht voran, schnell und kraftvoll nimmt er die steile Treppe hinauf. Ich sehe Türen zu mehreren Zimmern, auf dem Flur stehen Kühlschrank und Kühltruhe, ein Tischchen mit Töpfen, Flaschen und Gläsern. Den Boden bedeckt, wie schon unten, gemusterter Linoleumbelag. Während Vater mir alles zeigt und erklärt, erzählt er vom Bau der hiesigen Datsche: »Die andere, die es auch noch gibt, ist kleiner«, sagt er. »Aber sie hat dafür einen sehr schönen Garten.« »Diese«, sagt er auch noch, »habe ich selbst gebaut, zusammen mit den Jungs. Die Arbeiter, die wir zu Anfang hier hatten, habe ich bald alle weggeschickt: Sie haben nur Bier getrunken, keine drei Säcke haben sie hintereinander bewegt. Da haben wir es lieber selber gemacht.« Besonders stolz ist er auf den Backsteinofen. Erst auf dem Rundgang ohne Kamera entdecke ich, was an den Wänden zu entdecken ist: hier ein silbernes Hufeisen, da das Bild einer russischen Kirche, dort ein Negerkopf als Relief, von dessen Ohr ein goldener Ring herabhängt, und, ja, auch das: eine Kuckucksuhr. In der tschechowschen Veranda! Natürlich könnte ich ihm jetzt erzählen, was bei Mutter so alles an den Wänden hängt, in Vitrinen steht, auf der Couch thront, und dass ich sie oft frage, wo sie den Hang, der sich darin manifestiere, eigentlich her habe? Aber dann müsste ich ihm auch sagen, dass sie das gar nicht so lustig findet, wie ich es meine: Ich solle ihr den Spaß nicht verderben. Über Geschmack lasse sich nicht streiten. Sie habe ihren, ich den meinen, und auf meinen solle ich mir bloß nichts einbilden. »Ja, so ist sie, deine Mutter«, würde er vielleicht antworten. »So kenne ich sie auch, jene Christa von damals.«
    Zwischen all dem Essen und Trinken, dem Bilderzeigen und der Hausinspektion bleibt Zeit, miteinander zu reden, auch über die Gegenwart, Konstantin übersetzt, aber wir nehmen ihn schon nicht mehr wahr, wie die Kamera von Adri, die fast |194| ständig irgendwo hinter uns herumtanzt. Wir reden und reden und gestikulieren und stellen fest:
Was
wir uns sagen und
wie
wir es sagen, gefällt uns nicht nur, weil wir es sagen. Wir gefallen uns, weil wir
das
sagen, was wir uns sagen, und
wie
wir es sagen: mit Leidenschaft und mit Ernst, mit Hohn und mit Spott, mit Sarkasmus und Flüchen, mit Symmetrie, ja sogar Kongruenz, und das in zwei Sprachen. Wir reden über Politik, russische wie deutsche, als hätten wir das schon immer getan, zusammen, auf engstem Raum, und widersprechen uns kaum: »Ich würde die Duma«, sagt er, »diese Faulpelze, mit

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