Vereister Sommer
einer Panzerdivision dazu bringen, anständig zu arbeiten! Was hältst du von Kohl?«, fragt er gleich danach, fast ohne Übergang. Aber ehe ich antworten kann und sagen müsste: »Nicht viel, wenn es um alles geht, und nicht wenig, wenn ich an das eine Jahr denke«, ist er schon bei dessen Nachfolger und sagt: »Wenn der Schröder nach Russland kommt, soll er bloß kein Geld mitbringen, nur deutlich sagen, dass hier endlich gearbeitet werden soll!« Zwischendurch, wenn er allzu deftig schimpft, blickt er zu Julia, dem hellwachen vierzehnjährigen Enkelkind mit der Videokamera, und schickt sie mit Augenzwinkern aus dem Raum, lachend läuft sie davon, und kichernd lugt sie danach durch den Türspalt: Der seltsame Dialog zwischen dem ewigen Großvater und dem plötzlich aufgetauchten Onkel aus Deutschland, der aber in Schweden lebt, scheint wie ein verrückter Film auf sie zu wirken. Und irgendwann sagt er: »Weißt du, ich habe nie Angst gehabt, habe mich immer aufgeregt, meine Akte muss dick sein.
Angst
«, plötzlich spricht er ganz ruhig und leise und wiederholt das Wort: »
смрах –
hatte ich erst, als die Kinder da waren.« »Ich verstehe, was du meinst«, sag ich, »gut sogar: Ich hatte zum Glück keine Kinder, als ich im Widerstand war. Constanze wurde in Hamburg geboren, da war ich schon fast zwei Jahre raus aus dem Gefängnis und im Westen.« »Aber jetzt bist du in Schweden«, sagt er. »Ja«, sag ich, »ich war glücklich im Westen, lange war ich das, jetzt bin ich es nicht |195| mehr. Ich brauche Abstand, Distanz.« »Das verstehe ich nicht«, sagt er, »es ist doch Deutschland?!«
Später sagt John, und Adri und Christine pflichten ihm geradezu fröhlich bei: »Wenn das kein Beweis war, dass ihr Vater und Sohn seid, dann gibt es keinen! Und deine Brüder, die haben von weitem mit ganz großen Augen zugeguckt und nur gestaunt, wie ihr palavert habt, mit Händen und Füßen, und die ganze Welt dabei vergessen, als hättet ihr das schon immer gemacht. Dein Vater hat sich durch dich für deine Brüder in diesem Moment wahrscheinlich verdoppelt, so unwahrscheinlich war das, was man sehen und hören konnte: mit eigenen Augen und Ohren, mein Lieber.« »Ja«, sag ich, »was soll man da noch sagen?! Wenn ich es mir genau überlege: Ein Beweis hat den anderen gejagt. Meine Leidenschaft für Politik ist offenbar auch die seine, meine Streitbarkeit auf diesem Feld, auch ihn feuert sie an, aber was mich am meisten erstaunt, fast umgehauen hat es mich, war, wie stolz er mir seinen Trommelrevolver zeigte und wie geschickt er sich noch das Schulterhalfter dafür umschnallte und das Ding darin verstaute mit der Bemerkung: ›Die Zeiten sind wieder gefährlich! Da braucht man so was!‹ Habt ihr gesehen, wie er sich gefreut hat, als er mir die Waffe reichte und ich sie sofort befühlte wie einen vertrauten Gegenstand und sie anlegte und zielte, durchs Fenster hinaus in den blauen Himmel über Schalikowo? Das war nicht gespielt oder ihm zuliebe gemacht: Ich mag Waffen. Schon lange. Aber das Schönste: Er macht auch die Küche, hat er mir verraten, und kocht.
Wie ich!
« »Passt doch«, sagt John, »hat Jurij uns nicht gestern erzählt, dass er Direktor eines gastronomischen Unternehmens war? Und du hast Bäcker gelernt.« »Kann sich«, frage ich zurück, »so etwas wirklich vererben?« »Verehrtester«, sagt John, der überall auf der Welt als Richard Gere durchgeht, mit dem ganzen Charme seiner Erscheinung: »Das gibt unser kleines Labor hier nicht her. Das überlassen wir doch besser der reinen Wissenschaft.«
|196| Der Mann, der vor Stunden einen schneeverkrusteten Dorfweg einhundert Kilometer westlich von Moskau passiert hat, um am Ende dieses Weges einen Menschen zu umarmen, zu dem er Vater nur deshalb nicht sagen konnte, weil ihm das Wort in der fremden Sprache, die der Umarmte spricht, plötzlich fehlte – den er aber fühlte in der Umarmung, als hätte er das Wort ausgesprochen, er sitzt nun wieder in seinem Zimmer im »Rossija« am Roten Platz und beginnt, auf der Tastatur des Telefons eine Nummer zu wählen, die Muschel des abgehobenen Hörers an sein linkes Ohr gepresst, eine lange Sekunde wartend, die das Signal braucht, um anzukommen, die Maßeinheit für die Ewigkeit ist vielleicht auch nur eine Teilformel der Relativitätstheorie, denkt er jetzt und weiß: Am anderen Ende des Rufs über Tausende Kilometer hinweg wird gleich ein Mensch seinen Namen nennen, zu dem er Mutter sagt, sagen kann in
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