Verfehlung: Thriller (German Edition)
Schlafzimmer im oberen Stockwerk.
Es herrschte eine unheimliche Stille. Sie fiel ihr stärker auf als noch bei ihrem letzten Besuch. Vielleicht, weil sie nun wusste, dass Ellie nicht bloß als vermisst galt, sondern von den gleichen Männern festgehalten wurde, die ihre Mutter mit brutaler Gewalt ermordet hatten. Rebecca versuchte das Gefühl abzuschütteln, dass dieses Zimmer auch nach dem heutigen Tag noch für lange Zeit unbewohnt bleiben würde.
Sie öffnete den Kleiderschrank, doch statt wie abgesprochen Sachen für Ellie herauszusuchen, griff sie wieder nach dem Tagebuch. Sie gab sich Mühe, es waagerecht zu halten, damit die Gänseblümchenkette diesmal nicht herausfallen und noch größeren Schaden nehmen konnte. Sie war der Lösung des Rätsels, was es mit dem Hinweis auf das Jahr 2003 auf sich hatte, zwar noch immer keinen Schritt näher gekommen, war sich aber sicher, dass diese Erkenntnis in irgendeiner Weise nützlich sein könnte. Möglicherweise handelte es sich um etwas, das Logan helfen würde, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Sie legte das Tagebuch aufs Bett und begann darüber nachzudenken, welche Kleidungsstücke sie einpacken sollte.
Damit die ganze Geschichte an Glaubwürdigkeit gewann – sofern das überhaupt möglich war –, musste es sich um Sachen handeln, nach denen Ellie in aller Eile gegriffen haben könnte. Ein adrettes, aufeinander abgestimmtes Outfit kam also nicht infrage. Sie durchwühlte die Regale und entschied sich schließlich für ein Paar alter Jeans, ein T-Shirt und eine Joggingjacke mit Kapuze. Dann raffte sie
noch etwas Unterwäsche, einige Socken und das erstbeste Paar Schuhe zusammen und schloss die Schranktür. Die herausgesuchte Kleidung stapelte sie auf das Bett.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie das Bündel nicht ungesehen an dem vor der Tür postierten Beamten vorbeitragen konnte.
»Mist.«
Sie verwünschte sich für ihre eigene Dummheit, nicht schon vorher daran gedacht zu haben. Sie war so sehr in Eile gewesen herzufahren, dass sie keinen Gedanken an die praktische Durchführung ihres Vorhabens verschwendet hatte.
Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinaus, als ob von dort eine Inspiration zu erwarten war. Doch sie wusste selbst nicht, was sie dort zu entdecken hoffte. Um diese Tageszeit lag die Straße verlassen da, weil sämtliche Bewohner bei der Arbeit waren. Ihr Wagen war das einzige Auto weit und breit.
Aber im Laderaum lag ja noch ihr Köfferchen mit den Materialien für die Beweissicherung. Das war die einzige Lösung. Sie würde die Kleidungsstücke und das Tagebuch als Beweismittel deklarieren, alles eintüten und dann in aller Öffentlichkeit aus dem Haus tragen.
Sie ging nach unten und erklärte dem Beamten, dass sie noch Beweise sichern müsse und gleich zurückkäme. Der Mann nickte wortlos.
Aus dem Kofferraum holte sie zwei Plastikbeutel, die dazugehörigen Anhängeschilder sowie ein Paar Latexhandschuhe und ging dann wie selbstverständlich zurück ins Haus. Sie schrieb etwas auf die Anhänger, was einer Überprüfung durch den Beamten standhalten würde – falls er denn überhaupt danach fragte –, und steckte die Kleider
und das Tagebuch in separate Beutel. Sie fand, dass alles sehr überzeugend wirkte.
Ungehindert verließ sie das Haus und nahm sich sogar die Zeit, sich bei dem Polizisten für seine Unterstützung zu bedanken. Dann fuhr sie in gemäßigtem Tempo quer durch die Stadt. Ihr Gewissen plagte sie, und sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ohne Zwischenfälle erreichte sie ihr Haus, wo sie als Erstes ins Bad laufen und sich übergeben musste. Als ihr Magen nichts mehr hergab, setzte sie sich auf den Badezimmerteppich und wischte sich die Tränen aus den Augen, die ihr beim Würgen aufgestiegen waren.
Wieder einigermaßen erholt erhob sie sich und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Die Sachen, die sie die ganze Nacht getragen hatte, warf sie in einem Haufen auf den Boden und sich selbst auf das Bett.
Da bin ich also, dachte sie, stecke in einer kriselnden Ehe fest, habe ein kleines Kind, das seine Mutter braucht, und soeben eine Straftat begangen, indem ich die mögliche Tötung von Verdächtigen in einem Fall von Mord und Kindesentführung billigend in Kauf nehme.
Was um alles in der Welt habe ich mir nur dabei gedacht? Sie fand keine Antwort auf ihre Frage. Sie wusste ja nicht einmal, was inzwischen passierte. Sie hatte ihre Karriere, ihre gesamte Zukunft in die Hände von
Weitere Kostenlose Bücher