Verflixter Kerl
Öffentlichkeit", war einer seiner Grundsätze.
Sie widerstand zunächst der Versuchung, in die hellbraune Mappe aus marokkanischem Leder zu schauen. Sie hatten sich oft über seine Marotte unterhalten, nie in ihre Handtasche zu schauen oder ihr etwas heraus zu reichen, wenn die Tasche in seiner Nähe stand: "Die Handtasche einer Frau und die Brieftasche eines Mannes sind auch in Partnerschaften tabu: Sie sind die letzten Rückzugsgebiete der eigenen Privatsphäre", hatte er immer gesagt. Das klang ziemlich hochgestochen, aber da er sich selbst stets daran hielt, hatte Silke nun ihrerseits entsprechende Hemmungen, einfach in die Mappe hinein zu schauen. Sie überlegte gerade, ob sie in seiner Firma anrufen sollte, aber als sie einen Blick ins Telefonbuch warf, sah sie, dass es den Firmennamen viele Male gab, immer mit anderen Namens-Zusätzen und jeweils anderer Nummer. Was sollte sie tun?
Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Als sie seine Brieftasche in die Hand nahm, fiel seine Visitenkarte ganz von selbst heraus. Es war eine jener vornehmen Karten aus Spezialpapier, die aussahen wie altes Kalbspergament und betont schlicht gehalten waren. Darauf stand nur der Name: Oliver von Bentheim-Ohlsdorff, Hamburg, Elbchaussee, und dann die Hausnummer. Keine moderner Schnickschnack wie Postleitzahl oder Telefonnummer. Nun, dann musste Oliver halt warten. Er würde sich bestimmt an diesem Tag noch melden.
Das tat er aber nicht. Als Silke am nächsten Tag von der Arbeit kam, hatte er auch nicht auf ihren Anrufbeantworter gesprochen. Sie beschloss, einen kleinen Ausflug mit der S-Bahn zu machen und ihm die Brieftasche zu bringen. Sie war ohnehin neugierig darauf, wie er wohnte. Wenn er nicht zu Hause war, gab es bestimmt Personal, das die Brieftasche annehmen konnte.
Silke wusste, dass Oliver an der Elbchaussee im vornehmen Stadtteil Blankenese wohnte – wo auch sonst, bei seiner Herkunft und gesellschaftlichen Stellung? Mit der S-Bahn war es eine halbe Stunde bis da hinaus, aber die Fahrt und der anschließende Spaziergang bis zu seiner Adresse waren ganz angenehm. Sie bewunderte die schönen alten Villen mit ihren gepflegten Gärten, denen man ansah, dass sie Fachkräften anvertraut waren. Hier bestellte man nicht den Hausmeister- und Gartenservice, sondern hielt sich einen eigenen Landschaftsgärtner.
Hin und wieder gab es auch Häuser mit Anwaltskanzleien, noblen Arztpraxen oder exklusiven Büros. Das Haus, das Silke suchte, entpuppte sich als ein solches größeres, modernes Gebäude mit Säulen am Eingang. Die Schiebetüren öffneten sich automatisch. Silke sah sich einem Pförtner gegenüber.
"Zu wem wollen Sie?"
Ihre Stimme war rau. "Herrn Oliver Bentheim-Ohlsdorff."
"Wohnt hier nicht", erwiderte der Pförtner unwirsch.
"Aber er hat mir extra diese Karte gegeben." Sie zeigte die Visitenkarte vor. "Ich soll ihm etwas Wichtiges bringen."
Seine Augenbrauen hoben sich. "Das können sie mir geben. Ich gebe es weiter."
Silke schüttelte den Kopf. "Ich will ihn sehen. Immerhin ist er mein Verlobter. Er braucht seine Papiere." Sie hielt die Brieftasche hoch.
"Ich lege sie ihm ins Fach", beharrte der Pförtner und deutete auf die Wand, die seinem Platz gegenüber lag. Da gab es mindestens zweihundert Schließfächer, schmal wie die Auszug-Fächer bei einer Bank.
Silke schaltete sofort. Er wohnte also nicht hier, sondern hatte nur eine Briefkasten-Adresse. Das ließ sie stutzig werden. Wie sollte sie jetzt nach seiner richtigen Adresse fragen, ohne zu verraten, dass sie nicht seine Verlobte war? Sie entschloss sich zu einem "geordneten Rückzug", indem sie sagte: "Er wird sein Fach heute nicht mehr leeren. Ich bringe ihm die Papiere am besten direkt zum Flughafen."
Außer Sichtweite des Hauses öffnete sie dann doch die Brieftasche, die mit einer schmalen Lasche gesichert war. Es war nun mal notwendig, und außerdem fand sie Olivers Getue darum ziemlich übertrieben.
Sie fand keinen Ausweis, aber zwischen etlichen hastig bekritzelten Notizzetteln und Quittungen über diversen Bürokram immerhin einen leeren Briefumschlag, der an "Oliver Hansen, Bentheimer Straße 11, Hamburg-Ohlsdorf" adressiert war.
"Na warte, Oliver, du Schwindler", dachte sie. "Von Bentheim-Ohlsdorff! Alles klar! Ich ziehe dir die Ohren lang. Als ob du es nötig hättest, mir gegenüber hochzustapeln! Ich liebe dich doch auch so!"
Doch mit dem Liebesgefühlen war es dann schnell vorbei, als ihr eine bieder und erschöpft aussehende Frau
Weitere Kostenlose Bücher