Verflucht himmlisch
Seite zu reißen, aber es war zu spät. Scheppernd trafen sie auf den vollen Farbeimer, der mitten auf dem Gerüstboden stand, ein blöder, dummer, überflüssiger Farbeimer. Eine blaue Fontäne schoss mir entgegen, während ich das Gleichgewicht verlor und stürzte. Alles wurde blau, blaue Sprenkel auf meinen Armen, meinem Gesicht, meinen Händen, dann ergoss sich der Rest über meinen Nacken. Ich kippte nach hinten und wusste, dass ich mir gleich fürchterlich wehtun würde, denn ich würde genau dort aufprallen, wo ich eigentlich mit den Füßen landen wollte: auf dem eisernen Mülleimer. Doch für einen kurzen Moment wurde es totenstill. Ich hing reglos in der Luft, nichts bewegte sich mehr, die blauen Farbtropfen erstarrten und bildeten ein seltsames Muster, ja, fast eine Gestalt – war es eine Gestalt? Blickten da zwei Augen auf mich herunter? Bedeutete das, dass ich jetzt sterben würde? Holte mich jemand?
Dann war es vorbei und ich fiel. Auch das kannte ich schon. Zuerst war da nur der Schreck und das flaue Gefühl im Magen. Wie eine Welle, die durch den Körper schießt. Und dann kam der Schmerz. Er kam immer erst später. Genau dann, wenn ich dachte, och, ist ja gar nicht so schlimm. Und das war umso gemeiner.
Also hing ich schief und krumm auf dem Mülleimer und wartete auf den Schmerz. Und dabei fiel mir ein, dass Guiseppe ja noch oben am Fenster des Kunstsaals stand und filmte. Er hatte alles gesehen. Und aufgenommen. Nein, niemals würde ich jetzt mit ihm reden, ihn anschauen können. Was für eine Blamage. Mein Herbstrun war nicht nur gescheitert, nein, ich war auch verletzt und über und über mit blauer Farbe besudelt. Schon hörte ich, wie sich Schritte näherten und Stimmen laut wurden. Und dann kam der Schmerz, stechend und brutal. Meine Schulter … oh Gott, tat das weh … Ich ließ mich auf den Asphalt rutschen. Alles drehte sich. Was war mit meinem Kopf los? War das jetzt Blut oder Farbe, was über meine Schläfe lief? Ich versuchte, es mit dem Finger abzustreifen, aber ich konnte meinen Arm nicht heben.
»Luzie! Luzie …«
Das war Guiseppe. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als mich ohnmächtig zu stellen. Ja, das war das Beste. Nicht mehr da sein. Ich schloss die Augen.
»Ich habe es so satt! Satt!!! Ich will nicht mehr! Aus, Schluss, vorbei!«
Ich wurde noch ein bisschen starrer. Was war denn das jetzt? Guiseppes Stimme klang jedenfalls anders. Komplett anders. Jede menschliche Stimme klang anders. Es hatte sich irgendwie transparent angehört. Als würde Glas sprechen. Flüssiges Glas. Wer zum Teufel sprach wie flüssiges Glas? Und warum war er oder es so wütend?
Plötzlich fühlten sich meine Ohren an, als würde jemand dicke Wattekugeln hineinstopfen. Das Johlen und Rufen der anderen verstummte. Auch die Vögel waren still. Stattdessen breitete sich ein dumpfes Grollen unter mir aus, das über meinen Körper kroch und sich auf meine Haut legte. Ein wütendes Grollen, wie Paukenschläge. Erst nach Sekunden ebbte es wieder ab.
»Ach, Vater, komm schon, es ist doch egal, sie ist ohnmächtig, sie kann mich nicht hören, schnurzegal, und verdammt, ich möchte endlich mal die Menschensprache benutzen, immer nur muss ich zuhören, den ganzen Mist, Tag und Nacht blablabla, blubb, nie darf ich was machen oder sagen, immer nur aufpassen, ich mag nicht mehr, finito, ich bin fertig mit dieser – Göre!« Ich spürte eine Berührung an meiner Seite, da, wo nichts wehtat, knapp oberhalb meines Gürtels. Als ob eine Welle mich kitzelte. Mehr nicht. Ein Schauer rieselte über meinen Rücken.
Erneut ertönte das Grollen unter und auf mir und ich bekam langsam ein bisschen Angst. Warum kamen die anderen nicht zu mir und halfen mir? Wieso ließen sie mich hier auf dem Boden liegen? War ich vielleicht doch tot?
Hatten sie mich etwa geholt? Und würde Papa mich in seinem Keller zusammenflicken müssen, neben der Omi von gestern, damit ich anständig aussah, wenn man mich begrub? Wurde gerade diskutiert, ob man mich in den Himmel oder in die Hölle schickte?
Aber warum hatte die gläserne Stimme dann gesagt, ich sei ohnmächtig und könne nichts hören? Ich hörte doch etwas. Ich hörte sogar etwas, was ich noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Eine gläserne Stimme. Guiseppe hin oder her, ich musste jetzt die Augen öffnen und sehen, was da vor sich ging.
Aber es funktionierte nicht. Meine Lider wurden schwerer und schwerer. Ich wollte meinen Arm bewegen, um sie nach oben zu
Weitere Kostenlose Bücher