Verführerische Maskerade
geschlossen hat, lacht der Franzose hinter vorgehaltener Hand. Er wird Russland benutzen. Er wird das Land auspressen und es in seiner schwächsten Stunde fallenlassen. Entweder will der Zar der Wahrheit nicht ins Auge sehen, oder er kann es nicht. Weil er nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen. Glaubt er etwa im Ernst, dass er Napoleon durch den Vertrag von Tilsit zu seinem neuen Busenfreund gemacht hat? Zu einem unverbrüchlichen Verbündeten?«
Er marschierte frustriert durch den Salon. »Noch nicht einmal auf den Rat seiner Mutter würde er in dieser Angelegenheit hören«, rief er mit hoher Stimme, »dabei hat die Kaiserinwitwe kein Geheimnis daraus gemacht, was sie von der Annäherung an Bonaparte hält.«
»Es stimmt. Gewöhnlich hört Alexander auf ihren Rat. Aber nicht in dieser Sache.« Nicolai schüttelte traurig den Kopf. »Wenn er sich nicht überzeugen lässt, muss er aus dem Weg geräumt werden … auf welche Art auch immer.«
»Sachte, sachte, mein Freund«, mahnte Alex, »man kann sich auch verständigen, ohne große Worte zu verlieren.«
»Alex, du bist der einzige Mensch, den er niemals verdächtigen wird«, gab Nicolai zu bedenken und richtete den Blick unter den buschigen grauen Augenbrauen aufmerksam auf ihn. »Du bist mit ihm aufgewachsen, hast mit ihm die Schulbank gedrückt, bist sein engster Vertrauter. Es dürfte nicht leicht für dich sein, über einen solchen Verrat nachzudenken.«
Im Salon herrschte angespanntes Schweigen, bis Alex wieder das Wort ergriff. »Ich betrachte es nicht als Verrat«, verkündete er ruhig, »es ist ein hässliches Wort. Wir unterhalten uns darüber, wie wir unser Vaterland retten können, selbst wenn wir dafür einen Mann opfern müssen.«
»Der Zar ist nichts als ein arroganter Dummkopf«, behauptete Constantin. »Es steckt viel zu viel von seinem Vater in ihm, und viel zu wenig von seiner Großmutter, der Zarin Katharina. Wenn ihr mich fragt, ich bin der Auffassung, dass wir den Zaren loswerden müssen. Den Zaren, seine Frau und seine Mutter … wir sollten den Thron der Schwester des Zaren überlassen, der Großherzogin Katharina. Sie ist die Einzige in der Familie, die den Geist und den unbändigen Willen der alten Dame in sich trägt.«
Alex schwieg, während die Männer weiter debattierten. Er dachte an die Kindheit des Zaren, daran, wie behütet und verwöhnt er aufgewachsen war. Man hatte ihn beständig ermutigt, sich beinahe als Gott zu betrachten, so perfekt und unfehlbar, wie ein menschliches Wesen nur sein konnte. Nie hatte man es ihm gesagt, wenn er einen Fehler gemacht hatte; jeden Wunsch hatte man ihm umgehend erfüllt. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ein erwachsener Mann unter solchen Umständen klug und weise regierte? Alexander hatte die Großmutter des Zaren, die Zarin Katharina, als außergewöhnlich kluge Frau von bestechendem Intellekt und ausgezeichneter Bildung kennen gelernt. Die Zarin war eine Frau, die ungeachtet aller Ländergrenzen mit den klügsten Köpfen der zivilisierten Welt korrespondierte. Wie hatte es nur geschehen können, dass sie in der Erziehung ihres Nachfolgers derart versagte?
»Alex, du bist sehr still.«
Nicolais Bemerkung riss Alex aus seiner Grübelei. »Bitte entschuldige, ich habe nachgedacht.«
»Nützliche Gedanken, wie ich hoffe«, meinte Tatarinov verbittert.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Interessiert musterte Alex den Neuling in der Londoner Emigrantenszene. Es war eine Welt, in der sich alle möglichen Leute tummelten, närrische und kluge, reiche und arme. Aber ihnen allen war gemeinsam, dass sie jenem Adel angehörten, der Mütterchen Russland unter Zwang oder freiwillig hatte verlassen müssen. Tatarinov war anders. Der Mann war wie ein roher Diamant, dem der Schliff des gewöhnlichen Emigranten fehlte. Aber wie alle Männer im Salon liebte er sein Vaterland über alles, und nichts galt ihm mehr als seine Ehre. Was trieb einen Mann wie Tatarinov an? Alex würde ein Auge auf ihn haben müssen.
»Ich denke, es könnte hilfreich sein, im Detail herauszufinden, was der Zar weiß … oder vermutet«, schlug Alex vor.
»Du hast doch sein Ohr. Kannst du ihn nicht aushorchen?«, fragte Constantin.
Alex nickte. »Ich hatte ohnehin vor, ihm in den kommenden Tagen zu schreiben. Dann werde ich das Thema anschneiden. Mal sehen, wohin es uns führt.« Er unterdrückte ein Gähnen.
»Ah, bitte entschuldige«, meinte Nicolai und erhob sich. »Wir halten dich
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