Verführt: Roman (German Edition)
Vorspiel zur Hinrichtung.
Eine der Wachen zog heftig an seinen Handschellen, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Gerard zuckte mit keiner Wimper. Die Wachen konnten nicht wissen, dass Fesseln ihm keinen Schmerz mehr zufügen konnten. Er hatte sich schon vor langer Zeit gegen ihren stählernen Biss gewappnet.
Als Gerard auf der Anklagebank Platz nahm, entdeckte er, dass sein Bruder sich den Platz hinter ihm erkämpft hatte, von wo aus sich gut nebensächliche Kommentare abgeben ließen, was eines von Kevins ganz besonderen Talenten war. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass verurteilte Schwerverbrecher solche Chancen bei den Damen haben«, flüsterte Kevin. »Fehlt gerade noch, dass sie dir ihre Unterwäsche vor die Füße werfen.«
»Verschrei es nicht. Und außerdem bin ich noch nicht verurteilt.«
Doch als die rückwärtigen Türen aufflogen und Admiral Sir Lucien Snow hereinrauschte, die Orden blinkend und selbst die Fransen der Epauletten bis zur Perfektion gestärkt, da wusste Gerard, dass das nur noch eine Frage der Zeit war. Eine befriedigende Kakophonie aus Buhrufen und Pfiffen von der Galerie begleitete den Admiral auf dem Weg zu seinem Platz. Die Menge fing zu trampeln an und war dankbar für jeden Anlass zum Tumult.
Der Richter ließ den Hammer niedersausen. »Ruhe! In einem Gerichtssaal Seiner Majestät hat kein solches Chaos zu herrschen, dafür stehe ich!«
Doch es war nicht die Zurechtweisung des schmächtigen Mannes, die den Mob zur Ruhe brachte, sondern das Erscheinen einer weiteren Person. Kollektiv japste die Menge nach Luft und reckte die Hälse, um einen Blick auf das Objekt ihrer Neugier zu erheischen. Sogar die Geschworenen riskierten einen scheuen Seitenblick.
Vom Türstock eingerahmt, stand da Lucinda Snow, in strahlendes Weiß gekleidet, von den Sohlen der zierlichen Glacélederschuhe bis zu den seidenen Bändern, die sich um ihren eleganten Chignon schlangen. Ein wollener Damenmantel lag auf ihren zarten Schultern, das passende Täschchen baumelte an der behandschuhten Hand. Gerards Mund wurde trocken vor Sehnsucht, als er sie erblickte.
Zu Gerards größter Erleichterung begleiteten sie keinerlei rüden Buhrufe, keine Pfiffe, keine obszönen Bemerkungen zu ihrem Platz neben dem Admiral. Der Admiral schien nicht erfreut, sie zu sehen. Aber wann wäre er das je gewesen?
»Die Presse?«, murmelte Gerard seinem Bruder zu und schaffte es nicht, seine Augen von Lucy zu wenden. »Hat man sie schlecht behandelt?«
Kevin ignorierte die drohenden Blicke der Wachen und lehnte sich über Gerards Schulter, damit niemand mithören konnte. »Erst waren sie ganz versessen darauf, sie als gefallenes Mädchen darzustellen. Aber ihre sorgsam inszenierten öffentlichen Auftritte bei diversen Abendgesellschaften, bei Theatervorstellungen und Ähnlichem haben die Presseleute umgestimmt. Du siehst ja selbst, sie benimmt sich wie eine Lady, die nichts zu verbergen hat, und sie macht es verflucht beeindruckend.« Er konnte sich das anzügliche Grinsen nicht verkneifen. »Man spekuliert, dass sie eisern deinen verderbten Avancen widerstanden hat, auch wenn sie dafür ihr Leben riskieren musste. Sie wird allenthalben als das neue Vorbild tugendhafter Mädchen gefeiert, als veritable Bastion der Keuschheit, als Wächterin der …«
»Oh, halt den Mund!«, knurrte Gerard. »Ich habe schon verstanden, worum es geht.«
Die Ironie wollte ihn einfach nicht amüsieren. Während Lucy in den Londoner Salons ihre tugendhafte Sittsamkeit zur Schau gestellt hatte, hatte er selbst den dunklen Kerker nur überstanden, weil er sich ihren köstlichen Körper erträumt hatte, die Haut gezuckert mit Sand vom Strand Teneriffas. Nur das Echo ihrer Stimme, heiser vor Liebe und Leidenschaft, war machtvoll genug gewesen, das Klirren der Ketten zu übertönen.
Doch heute im Gerichtssaal war von jenem leidenschaftlichen Wesen nichts zu sehen. Lucy wirkte schön und unterkühlt … und begierig darauf, ihn hängen zu sehen.
Gerard machte eine finstere Miene. Vielleicht hatte sie endlich begriffen, dass auch ihr eigener Schwanenhals fast am Galgen lang gezogen worden wäre. Er hätte erleichtert sein sollen. Er hatte genau das bekommen, was er gewollt hatte. Lucy war in Sicherheit, jedem Skandal entronnen und fähig, sich eine richtige Zukunft aufzubauen, zusammen mit einem gesetzestreuen Mann, dessen Lebenserwartung die nächsten zwölf Stunden überstieg. Warum also hatte er mit einem Mal das Bedürfnis, ihr den hübschen
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