Verführt: Roman (German Edition)
überlegte der Admiral, sollte man Smythe noch etwas Opium verabreichen. Dann wäre die Suchtpalette gefestigt.
Die Aussicht auf eine geordnete, strahlende Zukunft hob seine Laune wieder. Er kleidete sich an und verzichtete auf die Hilfe dieses lachhaften Trottels, den er als Kammerdiener eingestellt hatte. Als er mit seinem Spiegelbild zufrieden war, ging er zum Schrank und holte die Dienstpistole heraus. Die schwere Waffe lag angenehm in der Hand.
Heute würde die Gerechtigkeit obsiegen. Und falls nicht das Gericht dafür sorgte, dann würde er selbst es tun. Er hatte den Wachen aus Newgate bereits eine beeindruckende Summe in Aussicht gestellt. Falls die Richter nicht zu einem zufrieden stellenden Urteil kamen, würde der Mord nach einem dramatischen Fluchtversuch Claremonts aussehen.
Er schob die Pistole hinter die Schärpe und bewunderte sich noch einmal im raumhohen Spiegel.
Wenn es nämlich so aussah, als risse Claremont sich aus den Ketten und versuche, in die Freiheit zu entkommen, blieb dem Admiral schließlich keine andere Wahl, als ihn geistesgegenwärtig zu erschießen. Was sonst erwartete man von einem Helden?
33
Kevin Claremont erwies sich als exzellenter Kenner der menschlichen Natur.
Am Nachmittag des Prozesses waren die Bänke und Galerien im Old Bailey bis zum Bersten mit Anhängern seines Bruders gefüllt, darunter erstaunlich viele Frauen. In ganz London und den umliegenden Counties gab es keine Zeitung, die nicht wenigstens drei dramatische Berichte über Gerard Claremonts waghalsige Rettungsaktion für die Mannschaft der Courageous gedruckt hätte und wie nobel Claremont für König und Vaterland seine Freiheit geopfert hatte. Es war genau der Stoff, aus dem sich ein Epos stricken ließ, und Captain Doom wurde von Surrey bis Suffolk als Held bejubelt.
»Da ist er!«
»Gott, was für ein hübscher Junge!«
Eine der Frauen hielt eine Zeichnung hoch, die sie für einen hart verdienten Halfpenny erstanden hatte. »Nimm mich mit, Captain Doom! Brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich meine Tugend verteidige, ich hab nämlich keine!«
Die Menge brach in grölendes Gelächter aus, während Gerard von zwei bewaffneten Wachen durch die Reihen seiner Bewunderer nach vorne gebracht wurde. Sein eigenes Verständnis für die menschliche Natur war allerdings noch klarer als das seines Bruders. Er wusste genau, dass sich dieselben fanatischen Seelen morgen Mittag in Newgate einfinden würden, um mit Picknickkörben und Ginflaschen bewaffnet seine Hinrichtung zu begaffen.
Er bedankte sich mit einem eleganten Nicken für das heisere Gebrüll und markierte perfekt den zum Untergang verdammten Helden. Irgendwer sollte an dieser Farce schließlich seine Freude haben, auch wenn dieser Irgendwer, verdammt noch mal, nicht er selber war.
Doch der begeisterte Jubel von einer der oberen Galerien brachte ein echtes Lächeln auf seine Lippen. Dort oben stand seine Mannschaft, um das Prozedere unten aufs Genaueste zu beobachten.
»Schick sie in die Hölle, Captain«, hörte er Tam brüllen.
»Genau, Sir!« Pudge winkte aufmunternd mit dem Taschentuch.
Die vertrauten Gesichter verursachten Gerard zumindest leichte Befriedigung. Diesmal würde er sich dem Schicksal stellen, ohne seine Mannschaft mitzureißen. Genau wie Gerard es gefordert hatte, hatte der König seine Leute wegen ihres Heldenmuts im Fall der Courageous begnadigt. Sie hatten lediglich schwören müssen, ihre Talente nie mehr zur Piraterie zu nutzen. Seine Majestät hoffte offensichtlich, auf diese Weise den Pöbel zu beschwichtigen, der in Gerard bereits einen Märtyrer sah.
Einzig Apollo fehlte. Gerards Forderung, sich vor Gericht von dem imposanten Afrikaner vertreten zu lassen, war mit Bedauern abgelehnt worden. Die Richterschaft konnte nicht glauben, dass ein dunkelhäutiger »Wilder« der englischen Sprache mächtig war, ganz zu schweigen von eloquenter Argumentation. Zudem hatte man Apollo untersagt, im Gerichtsgebäude zu erscheinen, da man fürchtete, seine außergewöhnliche Erscheinung und sein unberechenbares Temperament könnten einen Aufruhr provozieren. Stattdessen stellte man Gerard einen mausgesichtigen Gerichtsdiener zur Seite, dessen Perücke schon vergilbt war und dessen Atem nach Gin stank.
Gerard zweifelte, dass dies einen großen Unterschied machte. Denn weder ihm noch seinem Anwalt war gestattet, Zeugen zu befragen oder gar ins Kreuzverhör zu nehmen. Der Prozess war lediglich eine Formsache. Das unterhaltsame
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