Verführt: Roman (German Edition)
befolgte die geflüsterten Anweisungen, würdigte den Grund ihrer Schmerzen aber keines Blickes. Er hasste das Baby schon jetzt für das, was es ihn kosten würde. Blindlings wickelte er es in die Lumpen und legte es seiner Mutter in den Arm.
Als sie ihrem Kind ins Gesicht sah, zitterte das Echo eines Lächelns über ihre Lippen und zeigte ihrem Sohn das herzzerreißende Zerrbild der schönen Frau, die einst seinen Vater bezaubert hatte.
Als der Junge sich wegdrehen wollte, berührte sie ihn am Arm und betrachtete seine feinen Gesichtszüge so hingebungsvoll wie gerade noch die des Babys. »Du bist ein guter Junge. Genau wie dein Papa. Dass du mir das nie vergisst.«
Als er diese wiederholte Behauptung über seinen Vater hörte, machte der Junge die Augen zu. Wenn Papa ein so guter Mann war, warum hat er uns dann verlassen, um zur See zu fahren? Warum hat er das salzige Grab des Meeres der Liebe einer Frau vorgezogen, die ewig auf ihn gewartet hätte?
Ein kraftloses Seufzen kam aus dem Deckenlager. Der Junge hob den Kopf seiner Mutter und fand seine Hoffnungen tot wie ihren Blick. Brennend zog sich seine Kehle zusammen. Er beugte sich über sie und küsste ihre kühle Stirn.
»Schlaf gut, Mama«, flüsterte er und schloss ihr sachte die Augen.
Das fremde Wesen fing in ihrem schlaffen Arm zu zappeln an. Der Junge betrachtete es angeekelt, dann fasste er es an, wie Mutter es gewollt haben würde. Es . Nichts anderes als ein Ding. Als er sich das Baby an die Brust drückte, knickten ihm unter der Last der Verantwortung die zitternden Beine ein.
Er musste dem Mädchen eine Amme finden. In dieser Gegend sollte das kein Problem sein. Geburten waren im Gewirr der Gassen alltäglich wie der Tod. Sein unwirscher Blick verweilte auf dem Gesicht des Dings. Er sollte es vermutlich waschen. Aber wann war je etwas Sauberes aus dieser Gegend gekommen? Es würde eh bald Ruß husten wie alle anderen.
Er fuhr mit dem Finger über die Wange des Babys und staunte, wie etwas so Pausbäckiges aus Mutters verbrauchtem Fleisch hatte schlüpfen können. Ihrer beider Blicke trafen einander; verschwommen der des Babys, verdrossen der seine. Neugier siegte über Widerwillen, und er wickelte die Lumpen auf.
Und staunte über eine Miniatur, deren Perfektion seine Mundwinkel bewundernd zucken ließ. »Sieht ganz so aus, mein Junge, als hättest du die richtige Ausrüstung dabei.«
Ein Junge. Ein Bruder.
Sein Bruder. Beschützerinstinkt erfasste ihn, als er die Arme fest um das kleine Bündel legte. Das arme Geschöpf hatte keine Mutter. Tränen stiegen ihm in die Augen, und er zwinkerte sie fort. Er selbst hatte immerhin noch einen Vater gehabt, dessen Namen er trug. Der kleine Kerl hatte niemanden. Niemanden außer ihm.
Draußen spottete trunkenes Gelächter seinen neu entdeckten Gefühlen. Er ertrug es nicht mehr, auch nur eine Minute länger mit dieser leeren Hülle gefangen zu sein, die einst seine Mutter gewesen war. Ungelenk drückte er sich das Baby an die Brust, stand auf und duckte sich in die Nacht hinaus.
Niemand beachtete ihn, als er die kopfsteingepflasterten Gassen hinunterlief, um instinktiv jenen einen Ort zu suchen, wo er den Gestank von Tod und Geburt aus der Nase bekam. Wo sich die anmutigen Masten der Schiffe zum Nachthimmel erhoben und ihn lockten wie ein Leuchtfeuer.
War es das, was seinen Vater getrieben hatte? Der Sirenengesang der gegen den Kai schlagenden Wellen? Er fiel auf die Knie.
Er wusste, was er tun musste. Er musste seinen Bruder von hier fortbringen. An einen Ort, wo kein ölig stinkender Fluss den Duft der See besudelte.
Er schob die Lumpen beiseite und besah sich den kleinen Kobold, den Gott ihm anvertraut hatte. »Ich bring dich fort von hier, Kleiner«, flüsterte er. »Ich schwöre, ich find uns einen Ort, wo wir beide Luft zum Atmen haben.«
Sein kleiner Bruder traf ihn mit der fuchtelnden Faust genau auf die Nase. Der Junge warf den Kopf zurück und lachte. Wilde Freude mischte sich in seine Angst.
ERSTER TEIL
Bist du auch keusch wie Eis, so rein wie Schnee, du wirst
doch der Verleumdung nicht entgehen.
Schönheit lockt Diebe schneller noch als Geld.
WILLIAM SHAKESPEARE
1
Der Ärmelkanal
1802
»Manche sagen, er ist der Geist von Captain Kidd, der von den Toten zurückgekehrt ist, um sich an denen zu rächen, die ihn betrogen haben.«
Lucy Snow lugte über den Rand ihres Buchs. Die alten Schauermärchen waren um einiges aufregender als die vom Autor selbst
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