Verführung der Finsternis: Roman (German Edition)
Körper des Mannes zeugte von unvorstellbarer Gewalt und einer unheilvollen Vergangenheit, die so dunkel war wie seine Augen. Aber Sabrina hatte keinerlei Anzeichen für mörderische Absichten bei ihm gesehen. Und außer der Angst, sich lächerlich zu machen, hatte sie auch keine Furcht in seiner Gegenwart verspürt.
Schwester Brighs Annahmen wurden mit besorgter Zustimmung von den anderen aufgenommen. Es folgten Debatten, und Stimmen wetteiferten darum, gehört zu werden, als jede bandraoi ihre Ansichten vor Ard-siúr darlegte.
Sabrina machte sich noch kleiner auf ihrem Stuhl. Warum sie zu der heutigen Besprechung gebeten worden war, hatte niemand klargestellt – möglicherweise, weil Schwester Ainnirs Arbeit im Hospital mehr und mehr Sabrina zufiel, da es mit der Gesundheit der alten Priesterin nicht zum Besten stand. Aber Sabrina wollte auf keinen Fall riskieren, dass irgendjemand plötzlich ihr Recht, dabei zu sein, anzweifelte. Wobei dieser »irgendjemand« wahrscheinlich Schwester Brigh sein würde, die jede Entscheidung Ard-siúrs infrage stellte und jede Gelegenheit wahrnahm, die Autorität der Priorin anzufechten.
Ard-siúrs ruhige, beherrschte Stimme unterbrach die Streitereien. »Eure Sorgen sind verständlich und wurden hinreichend zur Kenntnis genommen, doch meine Entscheidung ist gefallen.« Ard-siúrs vielsagender Blick richtete sich dabei geradewegs auf Schwester Brigh. »Ihr könnt euch jetzt zurückziehen, meine Schwestern.« Darauf folgte das Rascheln von Röcken und Stimmengewirr der sich erhebenden Frauen.
Auch Sabrina erhob sich von ihrem Stuhl und nahm ihren Platz am Ende der Reihe aufgeregt plaudernder Schwestern ein.
»Einen Moment, Sabrina«, sagte Ard-siúr mit einer Hand auf ihrem Arm und wartete, bis die Frauen sich zurückgezogen hatten, bevor sie Sabrina zu ihrem Platz zurückwinkte. An ihren Schreibtisch gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen fragte sie: »Stimmen Sie meiner Entscheidung zu? Oder denken Sie wie Schwester Brigh und die anderen, ich hätte den armen Mann vor die Tür setzen sollen?«
Die Priorin des Ordens fragte sie nach ihrer Meinung? Das war noch nie vorgekommen – und ein hoffnungsvolles Anzeichen. Vielleicht nahte ja doch ihre Ernennung zur Priesterin? Sabrina zögerte und wog ihre Worte sehr sorgsam ab. Es wäre nicht gut, die Dinge jetzt mit einer voreiligen, unbedachten Antwort zu verpatzen. »Ich glaube, Sie haben nur so gehandelt, wie Sie konnten, Ard-siúr. Weil nämlich allerlei Gefahren außerhalb unserer Grenzen liegen, was noch schlimmer ist für jemanden, der keine Ahnung hätte, woher die Gefahren kommen könnten.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, ihre Gedanken eilten ihrer Zunge weit voraus. »Nein, er muss bleiben. Zumindest, bis er wieder ganz gesund ist und ich herausfinde … ich meine, wir herausfinden, wer er ist und was ihm widerfahren ist.« Jetzt plapperte sie geradezu drauflos.
Ein schwaches Lächeln vertiefte die Falten in Ard-siúrs Gesicht. »Sie nehmen aber regen Anteil an Daigh MacLirs Schicksal!«
Hitze stieg von Sabrinas Nacken in ihre Wangen.
Ard-siúr gab ihr durch ein Nicken zu verstehen, dass sie entlassen war, und ging an ihr vorbei zur Tür. Mit raschelnden Röcken drehte sie sich dort noch einmal um. »Fast hätte ich den Brief vergessen.« Sie trat zurück an ihren Tisch, um eine gefaltete und versiegelte Seite aus einer Schublade zu nehmen und sie Sabrina zu überreichen. »Ich glaube, er ist von Ihrem Bruder.«
»Kilronan?«, fragte Sabrina etwas einfältig und drehte das schwere, kostspielige Kanzleipapier in ihren Fingern.
Ard-siúr warf ihr einen scharfen, abschätzenden Blick zu. »Erwarten Sie denn Nachrichten von einem anderen Bruder?«
Ein dumpfer Schmerz erwachte in Sabrinas Brust. Oh, warum hatte sie es für nötig gehalten, die ganze schreckliche Geschichte schriftlich festzuhalten? Seit Jahren hatte sie nicht mehr über die abgebrochene Verbindung zu ihrer Familie nachgedacht, und jetzt wusste sie, warum. Weil es zu schmerzhaft war. »Nein, Ehrwürdige Priorin. Weder Nachrichten noch sonst etwas.«
»Na schön! Sie dürfen gehen, mein Kind.«
Sabrina steckte den Brief in ihre Schürzentasche und wischte sich mit dem Ärmel über die brennenden Augen, als sie auf die Tür zuging. Sie hatte versucht, mit ihrer Familie abzuschließen, doch diesen tragischen Tag noch einmal zu durchleben hatte all ihren Schmerz und ihre Verlassenheit wie
Weitere Kostenlose Bücher