Verfuehrung in aller Unschuld
Sie doch schon vorher.“
„Nein, woher? Ich kannte nur Ihren Vornamen.“
Sie waren nur so kurz zusammen gewesen. Wahrscheinlich hatte sie das Ganze völlig überbewertet. Er konnte nichts dafür, dass sie sich damals Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Nur weil er der erste Mann gewesen war, bei dem sie Herzklopfen bekam!
Als Domenico sie jetzt forschend betrachtete, wurde ihr klar, wie naiv sie gewesen war. Was hatte sie erwartet? Was zählte ein netter Tag in Rom gegen die Tragödie, die sich in seiner Familie abgespielt hatte?
All die Jahre hatte sie ihn dafür gehasst, dass er sie damals nicht angehört hatte. Aber wie hätte er es denn tun sollen, mit einer hysterischen Pia und krank vor Kummer über den Tod seines Bruders?
Hätte er sich statt um seine Familie um sie kümmern sollen, eine Frau, die er kaum kannte und die sich absurderweise Hoffnungen auf ihn machte? Plötzlich kam sie sich unendlich älter vor als das naive Mädchen von damals.
Er wollte etwas einwenden, doch sie hob abwehrend die Hand.
„Schon gut, es spielt keine Rolle mehr.“ Und das stimmte. In ihrem Schmerz gefangen zu bleiben brachte sie kein Stück weiter.
Eins hatte ihr dieser Nachmittag gezeigt: dass das Leben immer noch lebenswert war. Das Leben im Hier und Jetzt. Sie würde es mit beiden Händen ergreifen und genießen, solange sie konnte. Warum etwas beklagen, das nicht mehr zu ändern war?
„Bier, Saft, Limo … Was darf ich Ihnen anbieten?“
Domenico hatte sich nur flüchtig das Wasser abgestreift, sich jedoch kein Handtuch umgewickelt. Bewundernd betrachtete Lucy seinen perfekt modellierten, muskulösen Körper mit der bronzefarbenen, vor Nässe glänzenden Haut. Seine tief auf den Hüften sitzenden Bermudashorts boten Anlass für die heißesten Fantasien …
„Orangensaft, bitte“, stieß sie heiser hervor. „Fahren wir denn nicht zurück?“
„Haben Sie es eilig?“ Er reichte ihr ein Glas Saft, nahm sich selbst ein Bier und machte es sich bequem. „Von hier aus kann man wunderbar den Sonnenuntergang beobachten. Ich dachte, das gefällt Ihnen.“
Bestimmt gefiel ihr das. Vorausgesetzt, sie konnte sich von seinem Anblick losreißen.
„Vielen Dank für den schönen Nachmittag“, plapperte sie drauflos, was immer noch besser war, als ihn anzustarren. Warum zog er sich nicht endlich etwas an? „Ich war noch nie mit einem Boot auf dem Meer. Ich bin eine richtige Landratte, ich kann noch nicht mal paddeln.“
Domenico lächelte. „Aber schwimmen können Sie.“
„Hallenbäder gibt es auch in England, aber ich wollte immer schon das Mittelmeer sehen. Deshalb kam ich als Au-pair nach Italien.“ Wehmütig ließ sie den Blick über das glitzernde Wasser schweifen. Über Domenicos Insel ging das Blau des Himmels allmählich in leuchtendes Pink über, und auf dem Festland gegenüber erstrahlten die an den Hang gebauten Häuser im goldenen Licht der Abendsonne.
Es war alles da, wovon sie als junges Mädchen geträumt hatte: Sonne, Sand, ein schönes, fernes Land. Selbst der starke, sonnengebräunte Held war zur Stelle.
Wie naiv sie gewesen war! Wie abenteuerlustig!
„Haben Sie nicht in Küstennähe gewohnt?“
Lucy trank einen Schluck Orangensaft. „Schon, aber mein Vater war Busfahrer und vernarrt in alte Autos. Also verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit damit, ihn auf Messen zu begleiten und ihm beim Schrauben an seinem Oldtimer zu helfen. Das Modell, das in Ihrer Tiefgarage steht, hätte ihn umgehauen.“
Ihr Lächeln verschwand, als sie an die gestohlene Zeit dachte, die sie mit ihrem Vater hätte verbringen können. „Er starb kurz nach meiner Verurteilung.“
„Das tut mir leid, Lucy.“ Domenico stand auf und kam auf sie zu, wandte sich dann allerdings unvermittelt ab. „Sie wären gern bei ihm gewesen, oder?“
Sein Ton war überraschend sanft.
„Ja“, flüsterte sie und versuchte verzweifelt, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren, die ihr vorwarf, nicht alles getan zu haben, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Sie hatte ihm vor seinem Tod so viel Kummer bereitet!
„Er wird es gewusst haben, Lucy.“
„Aber das macht es nicht leichter, oder?“
Domenico blickte so lange schweigend vor sich hin, dass sie fürchtete, mit der Anspielung auf seinen eigenen Verlust zu weit gegangen zu sein.
„Nein, da haben Sie recht“, erwiderte er dann und verzog den Mund. „Ich war in New York, als Sandro starb. Ich muss ständig daran denken, dass es vielleicht nicht passiert
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