Verfuehrung in aller Unschuld
war.
Früher an jenem Tag war es zwischen Sandro und Lucy zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Sandro hatte sich geweigert, Lucy kurzfristig Urlaub zu gewähren, damit sie ihren kranken Vater besuchen konnte. Aus verständlichen Gründen, wie Domenico fand, denn Pia hatte sich nicht wohlgefühlt, und das Au-pair-Mädchen wurde gebraucht. Der Streit war eskaliert, und schließlich hatte Lucy ihren Arbeitgeber angeschrien, dass sie ihren Willen schon noch bekommen würde.
Ihren Angaben zufolge war Bruno dann abends zu ihr gekommen und hatte ihr angeboten, bei Sandro ein gutes Wort für sie einzulegen. Nachdem sie ihn arglos in ihr Zimmer gelassen habe, sei er über sie hergefallen und habe versucht, sie zu vergewaltigen. Sandro, der sie schreien hörte, sei ihr zu Hilfe geeilt und habe sich dann im Gerangel mit Bruno die tödliche Kopfverletzung zugezogen.
Ihre Geschichte war zu löchrig gewesen, um vor Gericht standzuhalten. Alle Indizien hatten gegen sie gesprochen.
Pia beschuldigte Lucy, eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Mann unterhalten zu haben. Bruno stützte ihre Aussage, indem er Lucy als raffinierte Verführerin bezeichnete, die seinen Boss um den Finger gewickelt habe. Er gab an, die beiden zusammen gesehen zu haben, konnte sogar Datum und Uhrzeit benennen.
Sandro hatte offenbar versucht, seine Geliebte mit kostbaren Geschenken bei Laune zu halten. Das bewies der Schmuck, den man am Unglücksabend in Lucys Zimmer gefunden hatte. Das ganze Haus hatte gehört, wie sie Sandro drohte.
Zermürbt von der Sorge um seine Frau und dem Streit mit seiner Geliebten, so die Version der Anklage, hatte Sandro abends ein paar Gläser zu viel getrunken. Dann war er zu Lucy gegangen, um ihr den Schmuck als Versöhnungsgeschenk zu überreichen. In ihrem Zimmer war es erneut zum Streit gekommen, sie hatte den angetrunkenen Sandro gegen den Kamin gestoßen, und er hatte sich den Schädel aufgeschlagen.
Und Bruno Scarlatti? Hatte für die Tatzeit ein Alibi gehabt.
Pia hatte ihren verblutenden Mann in Lucys Armen vorgefunden.
Schaudernd dachte Domenico an den Moment zurück, als er Lucy im Fernsehen erkannt hatte. In ihrem blutbefleckten Nachthemd, eine Decke um die Schultern, war sie von der Polizei abgeführt worden. Sandro war tot und sie verhaftet.
Er hatte es seinem Bruder nicht wirklich übel nehmen können, dass dieser sich in die reizende junge Engländerin verliebt hatte. Domenico wusste, wie schwierig Pia sein konnte, erst recht nach der Geburt ihres ersten Kindes.
Und er wusste, welche Macht Lucy Knight über Männer besaß. Auch ihm hatte sie mit einem einzigen Blick aus ihren blauen Augen den Kopf verdreht.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der jungen Frau zu, die mit verschränkten Armen vor ihm stand. Es war ihm immer noch ein Rätsel, weshalb sie sich, vor Angst zitternd, an ihn geklammert hatte.
Weil sie den Mann im Bootshaus für Bruno Scarlatti gehalten hatte.
Weil Bruno … Sandro getötet hatte?
Domenico stockte der Atem. Nein, unmöglich! Vor Gericht hatte man alle Beweise sorgfältig geprüft, bis hin zu Lucys Fingerabdrücken auf der teuren Halskette, die von Sandro stammen musste. Es war ein Streit unter Liebenden gewesen. Bruno hatte sich laut einer Zeugenaussage zum Tatzeitpunkt ganz woanders aufgehalten.
Und doch, die alten Zweifel regten sich wieder. Das vage Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmte.
Ihre Schuld schien erwiesen, und doch fürchtete Lucy sich vor Scarlatti. Vielleicht weil dieser Teil ihrer Geschichte der Wahrheit entsprach und der Mann tatsächlich versucht hatte, ihr Gewalt anzutun?
Domenico ballte die Hände zu Fäusten. Die Vorstellung machte ihn rasend.
„Scarlatti arbeitet nicht mehr für die Volpes.“
Lucy sah auf. „Warum nicht?“
„Er wurde vor einigen Jahren entlassen, als Rocco herausfand, dass er eins der Hausmädchen belästigt hatte, und das nicht zum ersten Mal.“
Warum wunderte sie das nicht? Bruno war ein schleimiger Mistkerl und akzeptierte kein Nein. Die Versuchung, ihre eigenen Erfahrungen mit Bruno zu schildern, war groß, aber Domenico hatte das alles schon bei der Verhandlung gehört. Er hatte es damals nicht geglaubt, warum sollte er es jetzt tun?
Nichts hatte sich verändert. Sie hatte sich nur von ihm einlullen lassen.
„So, jetzt fahren wir hinaus.“
„Ich habe es mir anders überlegt. Ich bleibe an Land.“
„Wollen Sie sich im stillen Kämmerlein verstecken und vor sich hin brüten?“
Lucy
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