Verfuehrung in aller Unschuld
und unabhängig gehalten.
Ein einziger Kuss hatte genügt, um die Mauern niederzureißen, die sie über Jahre hinweg um sich errichtet hatte.
„Du hast recht, es ist schon spät“, sagte er.
Als er sich von ihr abwandte, war sie aller Vernunft zum Trotz enttäuscht.
Nachdem sie den Abend getrennt voneinander verbracht hatten, gestaltete sich das Frühstück am nächsten Morgen recht schweigsam.
Was hat mich nur geritten? fragte sich Domenico zerknirscht.
Er kannte die Antwort. Er hatte Lucy vom ersten Moment an begehrt, als sie ihm damals in Rom über den Weg lief.
Und nun hätte er sich um ein Haar auf ein sexuelles Abenteuer mit ihr eingelassen. Mit der Frau, die man wegen Mordes an seinem Bruder verurteilt hatte. Quälende Schuldgefühle plagten ihn. Wo war die Loyalität zu seiner Familie geblieben?
Vergessen, kaum dass er Lucy in den Armen gehalten hatte. Verdrängt von heißem Verlangen und dem Drang, das Rätsel zu lösen, das sie für ihn darstellte.
Der Gedanke, dass ein Angestellter der Volpes sie belästigt hatte, machte ihn rasend vor Zorn. Er wollte sie beschützen. Fühlte sich für sie verantwortlich, als wäre sie … seine Frau.
Domenico verspürte ein warnendes Kribbeln im Nacken.
Was er gestern erfahren hatte, hatte ihn ziemlich aus der Bahn geworfen.
Jahrelang hatte er geglaubt, Lucy hätte die Begegnung mit ihm auf der Schmuckausstellung bewusst inszeniert. Wie groß war die Chance, dass ihm mitten in Rom zufällig die Frau in die Arme lief, die für seinen Bruder arbeitete?
Nachdem er von Sandros Schwäche für dessen Au-pair-Mädchen erfahren hatte, das ihn verhext und ihm teure Geschenke abgeluchst haben sollte, war der Fall für ihn klar gewesen: Lucy Knight hatte dasselbe auch mit ihm vorgehabt.
Er hatte die Spannungen zwischen Sandro und dessen Frau gespürt, war aber nie auf die Idee gekommen, dass es dabei um eine Dreiecksgeschichte gehen könnte.
Wenn es denn so gewesen war.
Lucy behauptete, bis zum Prozess nicht gewusst zu haben, wer er war. Warum sollte sie jetzt noch lügen? Und warum hatte sie so verletzt gewirkt, als sie ihn fragte, warum er sie damals im Gericht ignoriert hatte? Verdammt! Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte.
Und wenn sie nun unschuldig war?
Sie saß ihm gegenüber und starrte auf ihren Teller, als gäbe es nichts Interessanteres als den Anblick ihres Frühstücksbrötchens.
Er wollte, dass sie ihn ansah. Er wollte ihre Lippen, um die ein trotziger Zug lag, küssen und die Leidenschaft hervorlocken, mit der sie ihn gestern überrascht hatte. Hinter ihrer reservierten Miene verbarg sich eine Frau, die anders war als alle, die ihm je begegnet waren. Lebendiger. Temperamentvoller. Gefährlicher.
War er verrückt, wenn er seine Pflicht seinem toten Bruder gegenüber vernachlässigte? Oder waren seine Zweifel an Lucy Knights Schuld berechtigt?
„Die Post, Signor.“ Das Hausmädchen kam mit einem Stapel Briefe herein und legte einen davon neben Lucys Teller.
„Für mich?“, fragte Lucy erstaunt. „Danke.“
Domenico fragte sich, wem sie ihren Aufenthaltsort verraten haben mochte. Über den Rand seines Saftglases hinweg beobachtete er, wie sie das Kuvert aufriss. Ein wohlbekanntes Logo sprang ihm ins Auge – das des Magazins, in dem der reißerische Artikel über sie erschienen war.
Seine Miene verfinsterte sich. Lucy wollte offenbar Profit aus ihrer Lage schlagen, indem sie seine Gastfreundschaft in Anspruch nahm und gleichzeitig mit der Boulevardpresse verhandelte.
Das hätte er sich ja denken können.
Warum war er dann enttäuscht?
Von wegen Unschuldsengel. Wie oft wollte er sich noch von ihr an der Nase herumführen lassen?
„Und, bieten sie mehr als ich?“
„Wie bitte?“ Verwirrt hob Lucy den Kopf.
Domenico wirkte ziemlich sauer.
Nun gut, sie war heute Morgen nicht sehr gesprächig, weil sie nicht fassen konnte, was gestern passiert war. Aber gerade war sein Blick noch nicht so kalt und seine Stimme noch nicht so schneidend gewesen.
„Sieht aus, als wäre ihr Angebot reizvoller als meins.“ Zornig musterte Domenico den Brief in ihrer Hand. Da begriff sie.
Die Enttäuschung traf sie wie ein Messerstich ins Herz. Die winzige Hoffnung, die sie seit gestern gehegt hatte, löste sich in Luft auf. Domenicos liebevolles Interesse und seine Zärtlichkeit, warm und tröstlich wie ein Sonnenstrahl, erschienen ihr jetzt wie blanker Hohn.
Wie dumm sie war. Wie himmelschreiend dumm und sentimental.
Hatte das Leben sie
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