Vergangene Schatten
sagen konnte, was Erins Verhältnis zur Familie ihres Mannes beeinträchtigen könnte. Es war überhaupt nicht lustig, in diesem Spiel die Maus zu sein.
»Ich muss los«, sagte Matt, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte. Er bemühte sich, seine Erleichterung nicht zu zeigen, und wandte sich Antonio zu. »Mrs. Hayden führt ihren Hund schon wieder auf der Route 1 spazieren.«
Antonio machte ein säuerliches Gesicht.
»Na und?«, fragte Erin und sah die beiden Männer verständnislos an.
»Sie hat nichts an als ihre Schuhe und einen großen Sonnenhut«, erläuterte Matt. Mrs. Hayden war neunzig Jahre alt, und sie wurde immer vergesslicher. In letzter Zeit vergaß sie immer öfter, sich anzuziehen. Das war nun schon das vierte Mal seit März, dass ein schockierter Autofahrer anrief, weil die Dame mit ihrem ebenfalls hochbetagten Hund die Straße entlangspazierte.
»Kann sich denn nicht jemand anders darum kümmern?«, fragte Shelby mit einem Hauch von Ungeduld und trommelte mit den Fingern auf das Gehäuse ihres Notebooks.
»Sie mag Matt«, sagte Antonio, erneut lächelnd. Matt fiel auf, dass sein Stellvertreter, wenn er schon lächelte, dies fast immer auf seine Kosten tat. »Wenn ihr irgendjemand anders zu nahe kommt, geht sie mit dem Hut auf ihn los. Von Matt lässt sie sich nach Hause bringen.«
Erin kicherte, während Shelby verständnislos dreinblickte.
»Dann bis später«, sagte Matt und nützte die Gelegenheit zur Flucht, die der Himmel ihm geschickt haben musste. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass er einmal froh darüber sein würde, wenn man ihm mitteilte, dass Mrs. Hayden wieder einmal ihren schrulligen Tag hatte. Er hatte es allemal lieber mit einer nackten Neunzigjährigen zu tun als mit einer liebestollen Zweiunddreißigjährigen.
Antonio saß auf dem Beifahrersitz, als Matt seiner Schwester und seiner Exfreundin noch rasch zuwinkte, ehe er seinen Wagen aus dem Parkplatz manövrierte.
Die Frage nach Marsha Hughes' Verbleib rückte für den Augenblick in den Hintergrund, während er losfuhr, um Benton und Umgebung vor etwaigen Gefahren zu schützen, die von zerstreuten alten Ladys drohten.
4
29. Juni
In dieser verregneten Nacht war es in Benton so feuchtheiß wie unter einer heißen Dusche. Es war außerdem so dunkel und unheimlich wie in einem Burgverlies. Als Carly Linton neben der alten Birke im Garten stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen, stellte sie fest, dass die Nachtruhe in Benton nicht ganz so vollkommen war, wie man es von diesem kleinen Städtchen zu so später Stunde hätte erwarten können. Zumindest ein Mensch war wach, und sie sah ihn direkt vor sich - oder zumindest einen Teil von ihm.
Knackiger Hintern, war ihr erster Gedanke, als sie den wohlgeformten, von abgetragenen engen Jeans bedeckten Körperteil erblickte. Nicht dass ein männlicher Hintern für sie irgendeinen Reiz gehabt hätte. Diese Zeiten waren vorbei. Seit ihrer Scheidung hätte sie für diesen Körperteil höchstens einen kräftigen Fußtritt übrig gehabt - egal ob knackig oder nicht. Außerdem widmete sie der Begutachtung dieses Hinterns lediglich einen flüchtigen Augenblick, als der Strahl ihrer Taschenlampe auf einen Mann fiel, der auf allen vieren rückwärts unter der Veranda des Hauses ihrer Großmutter hervorgekrochen kam. Nein, ihres Hauses, um genau zu sein. Ihre Großmutter war seit drei Jahren tot, und das viktorianische Haus, das Carly geerbt hatte, stand leer, seit Miss Virgie Smith, die es gemietet hatte, vor zwei Monaten in ein Haus mit betreutem Wohnen in Atlanta gezogen war. Demnach hätte das Haus immer noch leer stehen müssen. Es hätte also nicht nur niemand darin wohnen, sondern auch niemand unter der klapprigen Veranda hervorgekrochen kommen dürfen. Es passte ganz zu der Pechsträhne, die sie seit einiger Zeit hatte, dass dem nicht so war.
Carly blieb wie angewurzelt stehen, die Taschenlampe immer noch auf den bemerkenswerten Hintern gerichtet, und überlegte, was sie tun sollte.
»Großer Gott, ist das ein Einbrecher?«, flüsterte Sandra und blieb ebenfalls stehen. Sie war knapp eins achtzig groß und wog, wenn man ihr Glauben schenken wollte, hundertzwanzig Kilo, was jedoch in Wahrheit genauso einzuschätzen war, wie wenn die knapp einen Meter sechzig große Carly sagte, dass sie fünfzig Kilo wiege; es ging in beiden Fällen einige Kilo an der Wahrheit vorbei. Die dunkelhäutige Sandra hätte allein dank ihrer stattlichen Erscheinung in dieser Situation
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