Vergangene Schatten
bleiben!«
Carly dachte nicht daran, der Aufforderung nachzukommen. Nach Luft ringend lief sie noch etwas schneller. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust, und das Blut dröhnte in ihren Ohren. Sein Zuruf hatte diesmal schon näher geklungen als zuvor. Wo war der Mann bloß? Waren das seine Schritte, was sie da hinter sich dröhnen hörte, nachdem das verdammte Handy endlich zu klingeln aufgehört hatte? Oder war es ihr Herz, das so laut pochte?
Sie konnte nicht anders, als mit der Taschenlampe einen kurzen Blick nach hinten zu werfen - doch da war nichts als dunkle Nacht. Im nächsten Augenblick stolperte sie über eine Baumwurzel. Durch die Erschütterung glitt ihr die Taschenlampe aus der Hand und fiel ihr direkt vor die Füße. Carly trat darauf und hatte mit einem Mal keinen Halt mehr unter den Füßen. Hugo nützte die günstige Gelegenheit und stieß sich mit den Hinterbeinen kräftig von ihr ab. Dadurch geriet Carly noch mehr aus dem Gleichgewicht und konnte ihn nicht mehr festhalten, so dass er triumphierend mit wedelndem Schwanz davonhuschte.
Sie rief Hugo zurück, so dass sie nicht hörte, was hinter ihr vorging - bis sie urplötzlich mit der Wucht eines Lastwagens gerammt wurde. Als sie mit dem Gesicht voran auf dem durchweichten Boden landete, wurde ihr bewusst, dass es der Mann war, der sie umgeworfen hatte.
Der Mann mit der Pistole. Seine Arme schlössen sich um ihre Hüften, sein Kopf krachte gegen ihren Rücken, als hätte eine Bowlingkugel sie getroffen, und das Gewicht seines Körpers drückte ihre Beine gegen den Boden.
Carly schrie auf. Genau genommen war es nicht viel mehr als ein Piepsen, was sie von sich gab, da sie im Moment nicht genug Luft in ihre zusammengequetschten Lungen bekommen konnte, um einen anständigen Schrei zustande zu bringen. Nachdem ihre Flucht so brutal gestoppt worden war, trat ein anderer Instinkt in ihr zutage, der ihr befahl, sich zu wehren. Von einem Adrenalinstoß beflügelt, warf sie sich herum und schaffte es beinahe, den Mann abzuwerfen. Nun, leider nur beinahe, denn die schwer atmende, nur als dunkler Schatten wahrnehmbare Gestalt packte sie erneut, bevor sie sich ihm entwinden konnte. Er fasste sie am Hosenbund und riss sie mit aller Gewalt zu sich.
Gott sei Dank hielt der Metallknopf dem jähen Ruck stand. Carly hätte sich nicht träumen lassen, dass sie noch einmal dankbar dafür sein würde, dass sie nach der Scheidung durch den ganzen Stress mehr als drei Kilo zugenommen hatte - jedenfalls gab die eng anliegende Hose nicht nach. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Sie rutschte nämlich ein ganzes Stück in die falsche Richtung - und plötzlich war sein Kopf zwischen ihren Beinen. Zu ihrer Bestürzung spürte sie, wie seine Hand warm und rau über die seidenweiche Haut ihres Bauches glitt. Sie wurde von Panik erfasst; man brauchte nicht allzu klug zu sein, um zu wissen, was der Kerl vorhatte.
»Nein, nein, nein!«, stieß Carly verzweifelt hervor und schlug mit den Fäusten auf seinen Kopf und seine Schultern ein. Gleichzeitig zog sie die Knie hoch und rammte sie ihm in die Brust. Sie hatte in den vergangenen Monaten so manches ertragen, doch das war zu viel. Sie musste sich befreien, sie musste weg, nur weg ...
»Loslassen! Hilfe! Sandra! Hilfe!«
Ihre piepsenden Schreie waren nicht einmal einer Maus würdig, wie ihr verzweifelt bewusst wurde. Er sagte irgendetwas - es klang rau und kehlig -, doch sie war nicht imstande, den Sinn der Worte zu erfassen. Ihr Herz schlug so heftig, dass es jeden Hardrock-Schlagzeuger in den Schatten gestellt hätte. Mit Entsetzen blickte sie den Dingen ins Auge, die da kommen würden: Vergewaltigung oder Tod, vielleicht auch beides. Eigentlich hätte sie gar nicht überrascht sein sollen. Ihr Leben war in den vergangenen beiden Jahren eine einzige Katastrophe gewesen, und jedes Mal, wenn sie dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, kam irgendein neues Unglück daher. Doch das hier war einfach zu viel. Das war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass, in dem sich schon so viel Unangenehmes angesammelt hatte, zum Überlaufen brachte. Gott oder das Schicksal oder wer auch immer da oben die Fäden zog, sollte hiermit wissen: Carly Linton hatte eine Stinkwut, und sie würde sich das nicht länger gefallen lassen.
Sie kratzte ihre letzten Reserven an Kraft und Entschlossenheit zusammen, ließ den inneren Mike Tyson in sich zum Vorschein kommen und stemmte sich hoch, um ihn ins Ohr zu beißen. Er konnte gerade
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