Vergangene Schatten
angespannt, als müsste er mit ansehen, wie man sie vor seinen Augen folterte, was in gewisser Weise auch der Fall war. Aber wenn sie sich wirklich erinnerte, wenn sie ihm tatsächlich sagen konnte, wer der Täter war, dann würde bald alles vorbei sein, und sie war endlich wieder in Sicherheit. Er rieb kurz ihren Arm, eine kleine Geste der Beruhigung, und ließ die Hand auf ihrem Arm, als sie zu sprechen begann.
»Es war in der Nacht, immer in der Nacht. Er öffnete die Tür, und ich sah ihn da stehen, weil es hier drinnen dunkel war, aber draußen hell. Ich sah die große dunkle Gestalt - und dann kam er herein und schloss die Tür und ... begann.«
Sie zitterte wie Espenlaub unter seiner Hand. Matt biss die Zähne zusammen. Er hätte sie so gern von dem Bett heruntergezogen und in die Arme geschlossen, weil er Angst vor dem hatte, was er gleich hören würde.
Doch er hatte die Schleusen geöffnet, und jetzt konnte er die Fluten nicht mehr zurückhalten. Während er sich noch fragte, ob er das Ganze nicht lieber abbrechen und mit ihr von hier verschwinden sollte, fuhr sie mit ihren Erinnerungen fort.
»Er ging von Bett zu Bett. Meistens begann er dort drüben ...« - sie nickte in Richtung dts Bettes an der Wand gegenüber - »... und ging von unten nach oben vor. Ich war die Letzte.« Sie zitterte nun am ganzen Leib. »Er kam zu mir, sah mich an, und ich drückte mich an die Wand, so wie jetzt. Ich erinnere mich vor allem an seine Augen.« Sie holte tief Luft, ehe sie fortführ: »Ich tat so, als würde ich schlafen, und er drückte mir so ein Tuch auf das Gesicht - es war kalt und nass und roch scheußlich, irgendwie süßlich - und flüsterte >Schlaf schön,
Prinzessin <. Ich wagte es nicht, mich zu wehren oder sonst etwas zu tun, und dann schlief ich ein.«
Der Bastard hatte sie mit Chloroform betäubt, wie Matt sofort klar war. Der Bastard war in dieses Zimmer mit den vier kleinen Mädchen gekommen und hatte sie mit Chloroform betäubt. Es war einfach zu widerlich. Seine freie Hand ballte sich zur Faust.
»Es hat aber nicht immer gewirkt. Nach der ersten Nacht habe ich gelernt, den Kopf ganz leicht zu drehen und nicht zu atmen, und er achtete sowieso nicht besonders auf mich. Er interessierte sich für die anderen Mädchen - sie waren älter und schon gut entwickelt, weißt du, und ich war ein wenig benommen, aber ich schlief nicht, und so hörte ich, wie er zu ihnen ins Bett stieg. Ich hörte die Federn quietschen.«
Carly zitterte so heftig, dass sich das Bett auf und ab bewegte, so dass man auch jetzt die Federn quietschen hörte.
»Carly ...« Er konnte es nicht mehr mit anhören. Wenn dieser Bastard sie auch nur angerührt hatte, dann würde es ihm das Herz aus dem Leib reißen und ihn um denVerstand bringen vor Kummer und Wut.
»Ich erinnere mich wieder, Matt«, sagte sie mit herzzerreißend leiser Stimme, und sie sah ihn mit einem Blick an, von dem er wusste, dass er ihn in seinem ganzen Leben nie mehr vergessen würde. »In der letzten Nacht, bevor meine Großmutter kam, wachte eines der Mädchen auf, als er bei ihr im Bett war; es war Genny - ich erinnere mich noch gut an sie; sie war dreizehn und ziemlich wild, und ich hatte sogar ein wenig Angst vor ihr. Sie fing an zu schreien, und er schlug sie. Er schlug sie mit der Faust und dann noch mit etwas anderem, ich hörte das dumpfe Geräusch von dem Schlag, und dann stand er auf und trug sie hinaus.«
Sie sprach hastig zu Ende und holte erneut tief Luft. »Meine Großmutter kam am nächsten Morgen. Genny war noch nicht wieder zurück, als ich wegfuhr.«
Matt hatte bereits intensiv genug nachgeforscht, um zu wissen, dass die dreizehnjährige Genny Auden, so wurde vermutet, in der Nacht des 13. August aus dem Heim weggelaufen war. Danach verlor sich jede Spur von ihr.
Nun sah es ganz danach aus, dass sie nach einer Toten gesucht hatten.
»Wer war es, Baby? Wer hat das getan? Erinnerst du dich an seinen Namen?« Es schmerzte ihn zutiefst, ihr diese Qualen zuzumuten. Seine Stimme war heiser, sein Herz pochte wie wild, und er hatte Mühe, seine Wut so weit zu bezähmen, dass er sie zumindest ein wenig beruhigen konnte.
Carly nickte kurz. »Der Donkeyman. Wir nannten ihn den Donkeyman.«
Der Donkeyman. Das war wohl weniger ein Name, sondern eher eine Beschreibung des Mannes. Vielleicht war er es, der den Esel ins Heim gebracht hatte und sich um das Tier kümmerte.
»Damals glaubte ich, dass Genny weggelaufen war, vielleicht irgendwohin, wo
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