Vergangene Schatten
wieder einmal ein peinlicher Augenblick auf sie, den ihr das Schicksal bestimmt nicht ersparen würde.
Als sie zur Küche ging, hörte sie bereits Stimmen. Großer Gott, es klang so, als wären alle drei Schwestern da drin. Sie hätte fast kehrtgemacht und wäre wieder hinaufgegangen - doch damit hätte sie es höchstens aufgeschoben. Vielleicht war es besser, das Ganze hinter sich zu bringen.
Als sich Carly der Tür näherte, hörte sie Lissa sagen: »Also, ich nehme an, dass deine Regel - ,kein Sex unter meinem Dach' -damit der Vergangenheit angehört?«
»Ich habe bei dieser Regel eine Kleinigkeit vergessen«, erwiderte Matt vollkommen gelassen. »Sie gilt für jeden hier im Haus - außer mir.«
»Ganz schön unfair«, sagte Lissa. Im nächsten Augenblick betrat Carly die Küche. Lissa, Dani und Erin saßen bei Tisch, während Matt an der Arbeitsplatte lehnte und seinen Kaffee im Stehen trank. Vier nahezu identische kaffeebraune Augenpaare richteten sich sogleich auf sie; eines davon blickte ein wenig bedauernd, die anderen funkelten amüsiert.
»Guten Morgen«, sagte Carly und hoffte inständig, dass sie nicht rot wurde.
»Guten Morgen«, antworteten sie im Chor. Lissa grinste sie an, die beiden anderen zwinkerten verschmitzt.
»Möchtest du Kaffee?«, fragte Matt.
»Ja, danke.«
Als er sich umdrehte, um ihr eine Tasse einzuschenken, grinste ihr Erin zu und zeigte mit dem Daumen nach oben.
Zwanzig Minuten später saß sie mit Matt in dessen Wagen.
Zuvor im Bett hatte er ihr schon einiges über den Verlauf der Ermittlungen anvertraut. Er hatte ihr erzählt, dass Marsha als junges Mädchen fast einen Monat im selben Heim verbracht hatte wie sie. Es hatte sich gezeigt, dass sie und Carly zur selben Zeit dort gewesen sein mussten. Und sie waren sogar gleichzeitig im Krankenhaus gewesen - und zwar zusammen mit zwei anderen Mädchen: Genny Auden und Soraya Smith. Im Moment war man gerade dabei, die beiden Mädchen - heute waren sie erwachsene Frauen - zu finden, die vier respektive sechs Jahre älter als Carly waren.
»Ich glaube, dass in dem Krankenhaus irgendetwas passiert sein muss«, sagte er. »Das ist der einzige Zusammenhang, den ich zwischen dir und Marsha erkennen kann. Du warst damals acht Jahre alt. Du erinnerst dich zwar nicht mehr bewusst an das, was vorgefallen ist - aber in deinen Albträumen sucht es dich heute noch heim.« Er hatte sie ein wenig zögernd angesehen. »Was hältst du davon, wenn wir heute zu dem Heim hinausfahren und uns dort ein wenig umsehen? Vielleicht fällt dir dann wieder irgendetwas von damals ein.«
Sie hatte zugestimmt. Und so saßen sie nun in seinem Wagen und fuhren nach einer langen Fahrt bis zur Nordgrenze des Bezirks endlich durch die Tore des Heims.
Komisch eigentlich, dachte Carly, dass sie nie wieder hierher gekommen war, nachdem ihre Großmutter sie eines Morgens von hier abgeholt hatte. Sie hatte d^vor in Rocky Ford gelebt, einem Ort, der noch kleiner als Benton war. Sie und ihre Mutter waren bettelarm gewesen, und ihre Mutter hatte ein Alkoholproblem gehabt; Carly hatte einmal gehört, wie eine Nachbarin ihre Mutter eine »elende Säuferin« nannte. Erst viel später hatte Carly von ihrer Großmutter erfahren, dass ihre Mutter als Teenager eine ziemlich wilde Göre gewesen war und sich mit einem Jungen mit Motorrad herumtrieb. Eines Tages brannte sie mit ihm durch, obwohl sie gewarnt worden war, dass sie nie wieder zurückzukommen brauche, wenn sie einfach so abhauen würde. Wenig später kam Carly zur Welt, der Junge verließ Carlys Mutter schon nach kurzer Zeit wegen einer anderen und starb schließlich bei einem Autounfall in Tennessee. Carlys Großmutter weigerte sich tatsächlich, ihre Tochter wieder bei sich aufzunehmen, so wie sie es angedroht hatte. Doch als die Sozialarbeiter sich bei ihr meldeten und ihr mitteilten, dass Carly von ihrer Mutter verlassen worden wäre und sich jetzt in einem Heim aufhielt, nahm ihre Großmutter sie zu sich. Und mit der Zeit hatte sie Carly sogar lieb gewonnen, so wie Carly die alte Frau lieb gewann. Aber diese acht Jahre, bevor ihre Großmutter sie zu sich nahm, waren sehr einsame Jahre voller Angst gewesen.
Als sie mit Matt vom Parkplatz auf die niedrigen Backsteinbauten zuging, fand Carly, dass sie im hellen Sonnenlicht und umgeben von ausgedehnten Wiesen recht hübsch aussahen. Draußen spielten ein paar Kinder auf dem Spielplatz - arme kleine Kinder, dachte Carly -, und drinnen hielten sich noch mehr Kinder
Weitere Kostenlose Bücher