Vergangene Schatten
Örtchen ganz allein dir.«
Als sie sich dem Haus näherten, sah Carly die Schachtel mit den Küchenutensilien, die Sandra zuvor hatte fallen lassen. »Ich nehme die hier«, sagte sie. »Siehst du dein Handy hier irgendwo?«
»Nein. Und meine Tasche habe ich auch verloren.« Sandra folgte ihr und blickte sich dabei suchend um.
»Das finden wir bestimmt alles morgen früh.« Es kam für Carly nicht in Frage, jetzt auch noch eine Suchaktion zu starten - nach allem, was sie durchgemacht hatten. Ihre Nerven waren völlig zerrüttet, ihre Katze war verschwunden, und sie war so müde, dass sie auf der Stelle hätte einschlafen können.
»Gut«, sagte Sandra, der es offenbar genauso ging. Sie trat hier und dort ein paar hohe Grashalme zur Seite, unternahm aber sonst keinen ernsthaften Versuch, nach ihren verlorenen Sachen zu suchen. »Diese dummen Handys klingeln nie dann, wenn sie sollen.«
»Ein wahres Wort.«
Carly blickte sich währenddessen nach ihrer Taschenlampe um. Gewiss hätte sie nach ihr suchen können, doch wenn man bedachte, dass sie bestimmt ein Stück weitergerollt war, bestand in der Dunkelheit kaum eine Chance, sie zu finden. Außerdem kannte sie das Haus ihrer Großmutter wie ihre Westentasche. Wenn sie erst drin war, würden sie bestimmt binnen fünf Minuten Licht haben. Hier in den ländlicheren Gegenden Georgias waren Stromausfälle keine Seltenheit; deshalb hatte ihre Großmutter, wie Carly genau wusste, stets Kerzen und Streichhölzer im Esszimmer aufbewahrt. Es wäre doch lächerlich, sich von einer solchen Kleinigkeit wie einem Stromausfall entmutigen zu lassen, nachdem sie so weit gefahren waren. Außerdem begann es wieder zu regnen, und das Haus war um vieles näher als der Wagen. Es hätte ihr gerade noch gefehlt, in einem dieser für den Sommer in Georgia so typischen Wolkenbrüche klatschnass zu werden.
Außerdem wusste man ja nie, ob nicht vielleicht Matt aus irgendeinem Grund noch in der Nähe war - und es war so ziemlich das Letzte, worauf sie Lust hatte, Matt Gelegenheit zu geben, über sie zu lachen, weil sie die Flucht ergriff. Gerade weil Matt etwas von einem Herumtreiber erzählt hatte, beeilte sie sich, ins Haus zu kommen - zumal es schon nach Mitternacht und stockdunkel war.
Ein dicker Wassertropfen landete auf ihrer Nase. Carly blickte auf und verzog das Gesicht. Jetzt fing es also tatsächlich auch noch zu regnen an. Wenn sie nicht machte, dass sie ins Haus kam, würde ihr sorgfältig geglättetes Haar sich wieder zu kräuseln beginnen. Bevor sie gelernt hatte, wie man mit Föhn und Gel sein Äußeres ändern konnte, hatte sie stets unter ihrem penetrant gelockten Haar gelitten, das sie aussehen ließ wie eine dünnere, weit weniger hübsche Ausgabe von Shirley Temple und dem sie auch den Spitznamen Curls verdankte, den Matt ihr gegeben hatte. Sie hatte diesen Namen immer gehasst, doch da sie den Jungen angebetet hatte, dem sie ihn verdankte, hatte sie ihn ohne weiteres akzeptiert. Sie hatte sich so sehr nach ein wenig Zuwendung und Sympathie gesehnt, dass sie den Kosenamen, mit dem er sie stets so neckisch und gleichzeitig zärtlich bedachte, als ein Zeichen ansah, dass sie etwas Besonderes für ihn war.
Er hatte sie auch in der Nacht des Highschool-Abschlussballs so genannt, als er sie geküsst hatte und sie vor lauter Verliebtheit in seinen Armen dahinschmolz. Und dann noch einmal am Morgen, als er sie in der aufgehenden Sonne zum Haus ihrer Großmutter brachte. »Bis bald, Curls«, hatte er gesagt, ehe er sie noch einmal kurz, aber unglaublich zärtlich auf den Mund küsste.
Für sie war dieser Kuss voller Verheißung gewesen, doch angesichts der Tatsache, dass ihre Großmutter stets aufstand, sobald der erste Hahn krähte, und höchstwahrscheinlich schon im Morgenrock herbeikam, um ihn ziemlich rüde wegzuschicken, begnügte sie sich damit, ihn anzulächeln und zu sagen: »Gute Nacht, Matt.« Dann drehte sie sich um und ging ins Haus.
Gott, war sie verliebt gewesen. Sie war sich ja so sicher gewesen, dass er der Richtige war und dass er ihr ganzes Leben lang an ihrer Seite sein würde.
Dieser niederträchtige gemeine Schuft.
Carlys Miene verdüsterte sich angesichts dieser Erinnerungen, die sie mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte. Sie ging rasch weiter und blickte dabei unter die Büsche und die tief herabhängenden Blumen und auch zu den Baumkronen hinauf. Hugo war eine verwöhnte Einzelkatze und würde bestimmt nicht weit weglaufen. Obwohl es ihm
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