Vergangene Schatten
soweit er das beurteilen konnte, im ganzen Zimmer nichts Auffälliges zu erkennen. Da waren keine verräterischen braunen Flecken auf dem Teppich und auch keine dunklen Flecken an der Wand. Und unter der Couch ragten auch keine Gliedmaßen einer Leiche hervor. Matts Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Wenn die Sache bloß so einfach wäre.
»Sehn Sie, Sheriff, ich bin ja nicht dumm. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, platzte Kenan heraus und wandte sich ihm wieder zu. »Ich hab Marsha nicht angerührt, das schwöre ich.«
»Das hat ja auch keiner behauptet«, erwiderte Matt in ruhigem Ton. Es hatte keinen Sinn, Kenan zu provozieren, indem man in diesem Stadium der Ermittlungen mehr sagte, als nötig war. Es war ja durchaus möglich, dass Marsha einfach weggegangen war; es konnte jederzeit passieren, dass sie plötzlich wieder auftauchte. Andererseits gefiel ihm die ganze Sache gar nicht. Mochte man es nun Instinkt nennen oder einfach nur logisches Denken - aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau, die fast ihr ganzes Leben hier in der Gegend verbracht hatte, die immer pünktlich zur Arbeit erschienen war, die ein absolut geregeltes Leben führte und die hier ihren Freundeskreis hatte, einfach so wegging, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen.
»Sie ist einfach abgehauen«, sagte Kenan. »Sie ist in ihren Wagen gestiegen und weggefahren. Genauso war es, nicht anders.«
Matt wartete einen Augenblick und fragte dann: »Würden Sie mir vielleicht verraten, worum es bei dem Streit ging?«
Kenan machte ein gequältes Gesicht. »Um Wurst, verstehen Sie? Ich hatte etwas Wurst im Kühlschrank, und die war weg, als ich von der Arbeit heimkam und mir ein Sandwich machen wollte. Es stellte sich heraus, dass sie die Wurst einem verdammten Hund gegeben hat.«
Er holte tief Luft. »Es war einfach dumm. Eine dumme Sache, wie sie eben mal vorkommt.«
Matt sah über Kenans Schulter hinweg, dass sein Stellvertreter Antonio Johnson aus dem Badezimmer zurückkam. Antonio wurde in zwei Wochen fünfzig. Er war schwarz, etwa eins achtzig groß und fast genauso breit. Johnson hatte das finstere Gesicht einer Bulldogge und sah ganz allgemein wie ein Gangster in der Uniform eines Sheriff-Stellvertreters aus. Gleich nachdem sie hierher gekommen waren, hatte Johnson gefragt, ob er die Toilette benutzen dürfe, um sich so in den Bereichen der Wohnung umsehen zu können, die ein Sheriff oder sein Stellvertreter für gewöhnlich nicht zu sehen bekamen, wenn sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten. Sie hatten diese kleine List schon öfter angewandt und waren dadurch bisweilen auf interessante Informationen gestoßen. Diesmal hatten sie jedoch offensichtlich kein Glück damit. Antonio antwortete auf Matts fragenden Blick mit einem verneinenden Kopfschütteln.
»Danke«, sagte Antonio, als er zu ihnen ins Wohnzimmer kam. Kenan nickte und wandte sich wieder Matt zu.
»Ich hab ihr nichts getan«, sagte er und leckte sich nervös über die Lippen. »Das schwöre ich bei Gott.«
Matt sah ihn schweigend an. Kenan hielt seinem Blick stand.
»Sie meinen, außer dass Sie sie angeschrien haben«, erwiderte Matt in freundlichem Ton. »Und dass Sie ihr die Treppe hinunter nachgelaufen sind bis auf den Parkplatz hinaus. So war es doch, nicht wahr?«
Kenan sagte kein Wort. Das war auch gar nicht nötig. Sein erschrockener Blick war Eingeständnis genug.
»Sie können's auch gleich zugeben«, sagte Antonio, verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust und starrte Kenan an. »Wir wissen Bescheid.«
Matt sagte nichts, doch er wusste nur zu gut, dass die Sache bei weitem nicht so einfach war. Was sie wussten, war im Wesentlichen das, was Kenan und seine Nachbarn ihnen erzählt hatten: Marsha hatte einen Streit mit ihm gehabt, war anschließend davongelaufen beziehungsweise aus der Wohnung gejagt und seither von niemandem mehr gesehen worden, der sie näher kannte. Solange es keine handfesten Beweise gab, dass Marsha etwas zugestoßen war, hatten sie absolut nichts in der Hand. Doch Antonio war ein unverbesserlicher Optimist. Er dachte immer, dass, wenn er nur genug Druck ausübte, ein potenzieller Verdächtiger zusammenbrechen könnte und alles gestand, wodurch er allen Beteiligten eine Menge Zeit und Ärger ersparte.
Manchmal funktionierte das sogar.
Kenan verzog verärgert das Gesicht, als er zu Matt hinüberblickte. »Ich habe Sie gesehen, wie Sie mit dieser verdammten Mrs. Myer gesprochen haben. Die hockt den
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