Vergangene Schatten
im Gemeinschaftsraum und auf den Gängen auf.
Matt sprach mit einer älteren Frau, die gekommen war, um sie zu empfangen. Carly schnappte nur einzelne Wortfetzen des Gesprächs auf: Hallo, Sheriff und Ich habe Sie angerufen und das ist hier lang. Doch sie hörte nicht wirklich zu; sie war zu sehr damit beschäftigt, all die Eindrücke in sich aufzunehmen, die lange vergangene Gefühle in ihr weckten.
Sie hatte solche Angst gehabt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Matt mit leiser Stimme, als er sie am Arm nahm, um der Frau zu folgen. Sie fühlte sich etwas besser an seiner Seite, mit seiner warmen Hand auf ihrer Haut und seinen sorgenvollen Augen, die auf ihr ruhten. Sie nickte, und wenig später sah sie den Warteraum vor sich - mit der abgenutzten Holztheke, wo die Kinder ihre Medikamente bekamen, und dahinter eine Tür, eine graue Eisentür mit einem kleinen quadratischen Fenster. Die Tür war offen.
Es war nur einer da, mit einer Allergie. Ich habe ihn in ein anderes Zimmer gebracht.
Danke, das ist sehr nett von ihnen.
Carly hörte Matt und die Frau wie aus weiter Ferne miteinander sprechen, und schließlich löste sie sich aus seiner Hand und trat in das leere Zimmer ein. Es war klein und hatte ein Fenster, von dem aus man auf einen klapprigen kleinen Stall hinausblickte, der auf einem umzäunten Fleck stand. In diesem Pferch hatten sie früher den Esel gehalten und ein paar Hühner, zwei kleine Ziegen und ein kleines Ferkel. Sie hatte die Tiere so geliebt ...
Die Etagenbetten aus weiß lackiertem Eisen standen immer noch da - eines an jeder Wand. Sie hatte im oberen Bett auf der linken Seite geschlafen. Carly betrachtete das Bett, das noch genauso aussah wie damals: Eisenfedern, eine dünne Matratze mit einer blauen Decke und einem dünnen Kissen. Damals war es ihr so schrecklich hoch oben vorgekommen. Das war es tatsächlich; Carly stellte fest, dass die obere Matratze oberhalb ihres Kopfes lag. Sie hatte über eine Leiter ins Bett klettern müssen.
Auch die Leiter war noch da; sie war am Fußende des Bettes befestigt. Carly ging hin und stieg hinauf. Sie trug weiße Capris, ein schwarzes Leinenhemd und Tennisschuhe, so dass sie mühelos hinaufklettern und auf das Bett steigen konnte.
Quietsch. Quietsch. Das Geräusch war noch genauso wie damals. Gib Acht, dass du nicht hinunterfällst, hörte sie die warnende Stimme wieder in ihrem Kopf. Damals hatte eine ältere Frau hier gearbeitet, eine nette Frau, die sich den ganzen Tag um die Mädchen hier kümmerte und die ihr oft sagte, dass sie Acht geben solle. Und Carly hatte auch wirklich Acht gegeben und sich im Bett immer mit dem Rücken an die Wand gedrückt, weil sie Angst hatte, aus dem Bett zu rollen.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, und streckte sich auf dem Bett aus, den Rücken so wie damals an die Wand gedrückt.
»Carly.«
Sie hörte ihn; es war Matt. Er kam rasch zu ihr ins Zimmer, blickte sich nach ihr um und sah sie schließlich oben auf dem Bett.
»Ist alles okay?«, fragte er und trat rasch zu ihr ans Bett. Sie sah nichts anderes von ihm als vielleicht drei Viertel seines Gesichts - nicht sein Kinn, sondern nur Mund und Nase und Augen.
Seine Augen. Sie sahen sie an. Seine Augen.
Carly begann zu zittern.
37
Sie war kreidebleich im Gesicht, ihr Mund war leicht geöffnet, und ihre großen Augen starrten ins Leere. Mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt, lag sie auf einen Arm gestützt da, so dass ihre Locken über die Schulter herabfielen, und sie zitterte am ganzen Leib.
»Okay, vergiss es«, sagte Matt, nahm sie am Arm und zog sie zu sich, weil er es nicht länger ertragen konnte, sie so zu sehen -auch wenn es noch so hilfreich gewesen wäre. Es war warm im Zimmer, die Klimaanlage richtete nicht allzu viel aus, doch ihre Haut fühlte sich kalt an, als er die Hand um ihren nackten Arm legte. »Du brauchst das nicht zu tun. Carly ...«
»Ich erinnere mich«, sagte sie mit bebender Stimme. Wie sie ihn so ansah mit den Augen eines kleinen Mädchens, gab es Matt einen Stich ins Herz. »Es waren die Augen. Wie du ans Bett gekommen bist, da habe ich mich auf einmal an seine Augen erinnert. Es sind dieselben Augen, die ich in meinen Albträumen sehe. Es sind seine hellblauen Augen. Ohne Wimpern. Genau diese Augen hat das Ungeheuer, das mich überfallen hat. Er hat gesagt: >Jetzt erinnere ich mich an dich. «< Sie holte tief Luft. »Und jetzt erinnere ich mich an ihn.«
»Dann erzähl's mir.« Er war so
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