Vergeltung
verfolgt, und die Journalisten bestürmten die
Ermittler mit Fragen. Rebekka war erleichtert, als die Konferenz vorbei war.
Der Staatsanwalt traf ein, und der restliche Nachmittag verging
damit, die Anklagepunkte gegen Gert Gudbergsen durchzusprechen. Der illegale
Adoptionshandel konnte gerichtlich nicht mehr verfolgt werden, er war verjährt.
»Glücklicherweise kann er für den sexuellen Missbrauch an seiner
Tochter zur Rechenschaft gezogen werden. Paragraf 223«, sagte Rebekka.
Der Staatsanwalt nickte ernst. »Korrekt. Er kann bis zu vier Jahre
Gefängnis bekommen. Aber es gibt eine Verjährungsfrist von fünf Jahren.«
»Seit Anna Gudbergsen ungefähr sechzehn, siebzehn Jahre alt war, hat
er sie regelmäßig missbraucht. Er hat gestanden«, sagte Rebekka, und der
Staatsanwalt nickte zufrieden.
»Gut, dann bereiten wir die Anklage vor. Sie haben ja des Öfteren
mit dem Mann gesprochen. Sind Sie der Meinung, dass Gert Gudbergsen eine Gefahr
für seine Umgebung darstellt?«, fragte er, was Rebekka sofort verneinte. Sie
betrachte Gert Gudbergsen als ungefährlich, nur für seine Familie stelle er
eine Gefahr dar, antwortete sie, während sich der Besprechungsraum erst langsam
und dann immer schneller vor ihren Augen zu drehen begann. Sie entschuldigte sich
und ging mit steifen Beinen auf die Toilette, wo sie sich erbrach, während sie
sich an dem kühlen Klosettbecken festhielt, das schwach nach Urin und Chlor
roch. Sie spülte, stand einen Augenblick schwankend auf dem Terrazzoboden und
versuchte, ihre Kräfte zu mobilisieren, bis sie einsah, dass sie keine mehr
hatte. Sie musste in ihr Hotelzimmer und schlafen, und zwar sofort.
—
Jens Anker winkelte die
Beine im Bett an, während er gebannt auf seinen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher
starrte. Sie hatten den ganzen Nachmittag direkt aus dem Polizeipräsidium
übertragen, und er hatte erschüttert die Pressekonferenz verfolgt, wobei ihm
die ganze grauenvolle Wahrheit über die Morde an Anna Gudbergsen, Lene Eriksen
und an einer dritten jungen Frau, Katja Korsgaard, klar wurde. Er nahm eines
der großen lila Kissen und drückte es fest an sich. Er merkte, dass er am
ganzen Leib zitterte. Sein Herz schlug schnell und unregelmäßig, und er
versuchte, sich durch Summen zu beruhigen. Gleichzeitig war er erleichtert,
dass er nicht länger im Brennpunkt des polizeilichen Interesses stand. Sie
hatten ihn verdächtigt, das hatte er deutlich gespürt, vor allem dieser Riese
von einem Polizisten, Michael sowieso, der behauptet hatte, er hätte Lene gut
gekannt. Er schnaubte verächtlich. Nein, er hatte nicht gelogen. Er hatte sie
nicht gut gekannt, hatte kaum gewusst, wie sie aussah, als sie das erste Mal zu
ihm Kontakt aufgenommen hatte. Sie hatte ihn angerufen, weil er in einer
Französischstunde von seinem Semester an der Sorbonne erzählt hatte. Lene hatte
sein Bericht so inspiriert, dass sie ihn eines Abends angerufen hatte, um noch
ein paar Tipps zu bekommen. Es war ihr großer Traum, in Paris Französisch zu
studieren, erzählte sie ihm, und er hatte bereitwillig seine Erfahrungen weitergegeben.
Einen Monat später hatte sie noch einmal angerufen, um noch ein paar Fragen zu
stellen. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört, und er war zutiefst
erschüttert gewesen, als sie kurze Zeit darauf ermordet aufgefunden worden war.
Ihr Tod hatte ihn hart getroffen, die Stimmung an der Schule ihn stark
beeinflusst. Lehrer und Schüler beäugten sich noch lange Zeit danach misstrauisch,
und schließlich war er unter dem Stress zusammengebrochen, hatte seinen Job
gekündigt und war nach Stockholm gefahren, wo er bei einem entfernten Verwandten
gewohnt hatte. Langsam war er wieder zu Kräften gekommen und hatte es genossen,
weit fort von Ringkøbing zu sein, in einer Großstadt mit ihrem quirligen Leben,
und sich mit einer Freude in das Studium zum Psychotherapeuten gestürzt, die er
in seinem Lehrerberuf nie gekannt hatte.
Jens Anker schluckte und merkte,
dass er das Kissen noch immer fest an sich gepresst hielt. Dann dämmerte es ihm
plötzlich, und Erleichterung verdrängte die Angst. Eine lang zurückliegende
Erinnerung wehte ihn an, erst unbemerkt wie ein schwacher Windstoß, dann immer
kräftiger wie ein Sturm. Er hatte sie gesehen. Er hatte Jane Mathiesen in
Stockholm gesehen. Früh am Morgen in einem Zug. Sie waren beide in einem überfüllten
Zugabteil Richtung Stockholm Zentrum gewesen, als er sie in der
bleichgesichtigen, in dicke Wintermäntel und
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