Vergeltung
was er auf dem Herzen hatte, für ihre Zukunft
wichtig war.
»Ich weiß über Robin Bescheid«, sagte er.
Die Stille brauste laut in ihren Ohren, und sie hatte das Gefühl, in
einen Abgrund zu fallen. Sie schloss die Augen, ließ sich fallen, nahm den Sog
in ihrem Körper wahr. Doch bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte, spürte
sie Michaels Arme fest um sich und hörte seine Stimme an ihrem Ohr.
»Entschuldige, dass ich in deine Unterlagen geguckt habe. Das war
nicht richtig von mir.« Seine Stimme klang heiser. Er schwieg kurz. »Rebekka,
es war nicht deine Schuld, dass Robin ertrunken ist. Es war ein Unfall, ein
ganz furchtbarer Unfall, dich trifft keine Schuld. Das steht sogar in dem
Polizeibericht. Du hättest ihn nicht retten können. Er war knapp sieben, und du
warst neun. Neun Jahre. Herrgott noch mal, ihr wart Kinder.«
Die Sätze drangen in ihr Bewusstsein, setzten sich und schlossen
langsam das Loch in ihrem Inneren.
»Daran musst du glauben«, flüsterte er und streichelte sanft ihren
Arm. »Du musst das Schuldgefühl Robin und deinen Eltern gegenüber loslassen. Es
war nicht deine Schuld, niemand glaubt, dass es deine Schuld war.«
Sie lehnte ihr Gesicht gegen seine Brust, atmete den Geruch seines
T-Shirts ein, das schwach nach Waschpulver roch.
»Meine Mutter war da anderer Meinung. Sie konnte mir nicht vergeben.
Sie wird mir vermutlich nie vergeben können. In ihren Augen habe ich Robin umgebracht.«
Ihre Stimme zitterte, und Michael zog sie fester an sich.
»Sie kann sich selbst nicht vergeben, Rebekka, weil sie euch allein
an den Strand hat gehen lassen. Mit Amalie würde mir das genauso gehen.«
Tränen liefen ihre Wangen hinunter, legten sich wie kleine
Wasserpfützen auf ihre geschwollenen Lippen und liefen wie schwarze
Tuschestriche auf weißem Papier weiter auf Michaels weißes T-Shirt.
»Entschuldige, ich habe es gestern nicht geschafft, mich
abzuschminken.« Rebekka musste lachen, und er stimmte mit ein. Einen Augenblick
schien er zu erwägen, sie zu küssen, doch dann drückte er sie fester an sich,
und sie stöhnte leicht auf vor Schmerzen. Er sah sie erschrocken an und hielt
sie mit ausgestreckten Armen von sich weg.
»Jetzt musst du aber schnell gesund werden.«
»Nur die Ruhe, ich bin sehr viel stärker, als du glaubst.«
Er ließ sie los, und einen Moment saßen sie sich schweigend
gegenüber.
»Bist du wegen Robin so viele Jahre nicht hier gewesen?«
Sie nickte vorsichtig und schob sanft eine Haarlocke zur Seite, die
sich in ihr zerschlagenes Gesicht verirrt hatte.
»Ich musste einfach weg. Ich habe es hier nicht ausgehalten, und mit
der Zeit konnte ich mich auch nicht mehr überwinden, zurückzukommen. Nicht
einmal für einen kurzen Besuch. Alles hier erinnert mich an Robin. Das Haus
meiner Eltern ist wie ein stagnierter Albtraum. Dieselben Möbel auf denselben
festen Plätzen, die ganzen Fotos von Robin im Regal … und nicht zuletzt die
Stimmung, so schwer von ungelöster Trauer.«
Sie lehnte sich vorsichtig im Bett zurück. Michael hörte schweigend
zu.
»Es ist mir über die Jahre ganz gut gelungen, die Trauer und nicht
zuletzt das Schuldgefühl zu verdrängen, doch in dem Moment, in dem ich hier in
der Stadt ankam, war alles mit voller Kraft wieder da.« Sie räusperte sich
kräftig. »Das war eine unangenehme Erfahrung. Gewöhnlich habe ich alles unter
Kontrolle, verliere nie den Überblick …«
»Das hast du doch auch nicht. Ich meine, der Fall ist aufgeklärt, du
hast sogar die kleine Anna gefunden.«
Sie nickte nachdenklich.
»Ja, das stimmt, aber trotzdem …«
»Was ist? Bist du bereit, dir zu vergeben und nach vorn zu schauen?«
Michael sah sie an.
»Das bin ich. Irgendetwas ist da oben auf dem Gerüst passiert. Alles
schien plötzlich an seinen Platz zu fallen, im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie
zögerte kurz. »Wahrscheinlich muss ich mich nur noch richtig von ihm
verabschieden. Ich war nie wieder am Strand in Søndervig, wo es passiert ist.«
»Das solltest du tun.«
»Ja.«
»Wollen wir nicht etwas trinken? Etwas Alkoholisches?«
Michael wartete die Antwort nicht ab, sondern ging zu der Minibar
und kam mit einer Flasche Crémant wieder. Er schenkte ihnen in zwei verstaubten
Zahnputzbechern ein. Sie prosteten sich zu und tranken die sprudelnde
Flüssigkeit. Rebekka zog die Decke über ihren schmerzenden Körper, und Michael
setzte sich neben sie.
»Ich freue mich auf das, was vor uns liegt«, sagte er plötzlich.
Eine stille Freude
Weitere Kostenlose Bücher