Vergeltung
Wollmützen eingepackten
Menschenmenge erkannte. Sie saß am Fenster und sah mit einem mürrischen
Ausdruck auf die schneebedeckte Landschaft hinaus. Ihr Wintermantel saß stramm
über dem runden Bauch, und er wollte sich gerade zu ihr hindurchkämpfen, den
Hut zum Gruß abnehmen und sagen: »Hallo, Jane, erinnerst du dich an mich, an
deinen alten Französischlehrer – und herzlichen Glückwunsch, wann ist es denn
so weit?«, als der Zug mit einem lauten Quietschen am Bahngleis zum Halten kam
und sie erschrocken von ihrem Platz aufsprang, sich durch die Tür zwängte und
in dem Menschengewirr verschwand. Danach hatte er sie nicht mehr gesehen, und
als er viele Jahre später nach Ringkøbing zurückgekehrt war, hatte er an die
Episode keinen Gedanken mehr verschwendet.
Jens Anker glitt langsam unter die Decke und zog sie ganz über den
Kopf, während ihm sein unfassbares Glück klar wurde. Jane Mathiesen hätte ihn
ermordet. Wenn er ihr damals einen guten Morgen gewünscht und ihr zu dem Kind
gratuliert hätte, wäre das gleichbedeutend mit seinem Todesurteil gewesen. Ihm
wurde schwindelig, und er stellte sich vor, wie sie ihn um die Ecke gebracht
hätte.
Hätte sie ihm an einem dunklen Wintermorgen einen diskreten Stoß
versetzt, sodass er auf die Schienen gefallen wäre, oder wäre sie drastischer
zu Werke gegangen wie bei den anderen, bewaffnet mit einem großen Küchenmesser?
Er schluchzte laut unter der Decke, erst vor Schreck, dann vor Erleichterung.
—
Die Schmerzen waren
auszuhalten, wenn sie still lag und so flach wie möglich atmete. Sie hatte zwei
Schmerztabletten und eine Schlaftablette genommen, als sie zurück ins Hotel
gekommen war, doch ihr Schlaf war trotzdem unruhig und leicht gewesen.
Sie sah aus dem Fenster. Es
dämmerte, und der Himmel war von einem schönen Blau. Der Verkehr war als leises
Brummen zu hören. In der Ferne sprang eine Autosirene an und irgendwo weinte
herzerweichend ein Kind. Vorsichtig griff sie nach ihrem Handy, das auf dem
Nachttisch lag. Sie hatte es ausgeschaltet, um nicht gestört zu werden. Jetzt
sah sie, dass dreizehn Anrufe eingegangen waren. Fünf davon waren von Michael.
Sie rief ihn schnell an.
»Ich möchte gerne bei dir vorbeikommen«, sagte er. Seine Stimme war leicht
verändert, fiel ihr auf. Er klang fremd.
»Komm ruhig, ich liege im Bett und bin kampfunfähig«, sagte sie und
hörte, wie nasal ihre Stimme klang, als wäre sie betrunken.
»Soll ich dir etwas zu essen mitbringen?«
»Ich kann nichts essen, mein Mund tut höllisch weh, wenn ich etwas
hineinstecke«, antwortete sie, »aber über einen Trinkjoghurt und einen
Strohhalm würde ich mich freuen.«
Sie griff nach der Fernbedienung und zappte durch die Kanäle. Auf
allen Kanälen wurde über die Aufklärung der Morde berichtet und sowohl auf DR
als auch auf TV2 und TV2 News war sie zu sehen, wie sie, eingepackt wie eine
Mumie, neben einem redegewandten Teit Jørgensen saß.
Eine halbe Stunde später klopfte es. Sie humpelte zur Tür, um zu
öffnen, und musste über sich selbst lachen, während sie sich an den weißen
Wänden abstützte.
Michael stand in einer vom Regen durchnässten Jacke vor ihr und
hatte eine Tüte von Statoil in der Hand. Er half ihr zurück ins Bett, reichte
ihr einen kalten Trinkjoghurt mit Erdbeergeschmack und eine Packung Strohhalme.
»Hier hast du noch einen Vorrat«, sagte er und ging zur Minibar, in
der er zwei weitere Flaschen Joghurt deponierte.
Er zog sich einen Stuhl ans Bett und ließ sich schwer darauf nieder.
Sie unterhielten sich über die Pressekonferenz und die Anklage gegen Gert
Gudbergsen. Obwohl sie sich ungezwungen unterhielten, spürte sie eine
Veränderung zwischen ihnen, eine Distanz. Michael wirkte zerstreut, als würde
ihn etwas beschäftigen. Sie blickte ihn forschend an, und er spürte ihren Blick
und sagte: »Du siehst mich so an, was ist los?«
»Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen«, antwortete sie und
setzte sich vorsichtig im Bett auf. »Ich spüre, dass etwas dich bedrückt.«
Er schüttelte langsam den Kopf, und sie fügte schnell hinzu: »Falls
du mich doch nicht nach Kopenhagen fahren kannst, ist das okay. Ich kann das
ohne Weiteres verstehen, jetzt nach Amalies Operation.«
»Das ist es nicht. Amalie geht es gut, sie wird morgen entlassen und
möchte am liebsten nach Hause zu ihrer Mutter. Ich werde dich also auf jeden
Fall nach Kopenhagen fahren.« Er zögerte und schlug den Blick nieder, und sie
wusste instinktiv, dass das,
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