Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
isoliert und unbeweglich wie ein Fels, wurde er für die Amerikaner zum angreifbaren Ziel.
Sein Ende war unvermeidbar.
Und auch nicht ganz unwillkommen, denkt Aziz, als er den Zeiger der Uhr um eine Minute vorrücken sieht. Man stutzt den Baumwipfel, damit die Zweige darunter Sonne bekommen. Hätten die Amerikaner Osama nicht getötet, hätten wir es vielleicht selbst machen müssen, das ist die Wahrheit – der Mann war schlicht unfähig, die Welt nach 9/11 zu begreifen, auch wenn er die Entwicklung selbst in Gang gesetzt hatte. Er war ein wandelnder Anachronismus, verstand nichts von neuerer Technologie oder den heutzutage notwendigen modernen Methoden, einen Dschihad zu führen.
Eine neue Art der Kriegführung, überlegt Aziz, braucht auch neue Krieger. Keine religiös fanatischen Imame oder hoffnungsblinden Märtyrer, die sich von deren Predigten anspornen lassen – wobei diese Typen durchaus nützlich sein können –, sondern Hacker, Identitätsräuber, Scheckfälscher, Drogendealer, Scharfschützen, in Sondereinsatzkommandos eingeschleuste Spione und Soldaten, die ebenso gut ausgebildet sind wie ihre westlichen Feinde.
Traurig aber wahr, Osama war zum Sicherheitsrisiko geworden, hatte sie alle aufgehalten und in den vergangenen Jahren kaum mehr geleistet, als auf seinem Anwesen zu hocken und sich mit seinen zahlreichen Frauen zu zanken.
Osamas Tod war insofern bedauernswert, als er dem Feind Anlass zur Freude bescherte, aber er bot ungeheure Chancen.
Wer auch immer ihn rächen würde, katapultierte sich damit automatisch an die Spitze der losen Sammlung dschihadistischer Gruppierungen, die in alle Winde verstreut und zersplittert waren, nachdem die Amerikaner mit dem, was vom Kern der al-Qaida übrig geblieben war, kurzen Prozess gemacht hatten.
In die Hamburger Innenstadt werden die Amerikaner keine Killerteams oder Drohnen schicken. Aziz ist vorsichtig – die vergangenen drei Nächte hat er in einem bescheidenen Hotel in St. Georg verbracht, einem ehemals schäbigen Rotlichtviertel, inzwischen aber Zentrum der »Gentrifizierung«, die von Yuppies und sadji – Homosexuellen, die es hier anscheinend überall gibt – vorangetrieben wird.
Aber westliche Dekadenz kann Aziz schon lange nicht mehr schockieren. Er hat jahrelang in Großbritannien, in Deutschland, Frankreich und Amerika gelebt – in der ungläubigen Welt der Dsch ā hiliyya – und gelernt, diese mit hämischer Distanz zu betrachten. Tatsächlich gibt es einiges Bewundernswerte im Westen – die Industrie, die Technologie –, vieles, das es zu übernehmen gilt, aber im Großen und Ganzen ist die Zeit des Westens vorbei. Die industrielle Revolution war wichtig, ebenso der Nationalismus.
Aber jetzt ist die Zeit des Islam gekommen.
Er blickt erneut auf die Turmuhr.
Jeden Moment ist es so weit.
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Dave geht in die Kommandozentrale. Über eine Reihe von Monitoren kann er sämtliche Terminals überwachen – den Bereich mit den Check-in-Schaltern, die Sicherheitsschleusen, die Ladenzeilen, die Flugsteige. Überall drängen sich Passagiere mit Reisetaschen und Mänteln über den Armen.
Auf weiteren Monitoren sieht er den knapp drei Meter hohen »intelligenten« Zaun, mit dem das Flughafengelände ringsum gesichert ist. Zum Angriffserkennungssystem gehören Kameras, Bewegungsmelder und ein Ortungsradar.
Kameras überwachen Abflug und Ankunft außerhalb der Terminals. Auch der AirTrain, der die Passagiere zum Flughafen und von einem Terminal zum anderen befördert, wird lückenlos kameraüberwacht.
Von der Kommandozentrale aus kann Dave bestimmte Bereiche insgesamt einsehen oder auf die Hände eines einzelnen Mitarbeiters zoomen, der am Bildschirm eines der Geräte sitzt, mit denen das Handgepäck durchleuchtet wird. Er kann in die Gesichter der Reisenden blicken, wenn sie die Sicherheitskontrollen passieren.
Aber jedes System, egal wie sicher, hat Schwachstellen.
Die des JFK ist der AirTrain.
Man kann von jedem beliebigen Ort in New York City die U-Bahn nehmen und in Howard Beach in den AirTrain umsteigen, ohne eine Personen- oder Gepäckkontrolle durchlaufen zu müssen.
Die beiden Waggons des Zugs halten an allen Terminals, aber Sorgen macht Dave vor allem Terminal 4 – dort hält der Zug zwar auf der Ankunftsebene, aber direkt unterhalb der Abflughalle.
Genauer gesagt unter El Al, der israelischen Fluggesellschaft.
Er betrachtet den zweiten Waggon des AirTrain auf dem Monitor.
Etwas weckt seine Aufmerksamkeit. So wie ihm in
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