Vergeltung
Alptraum. Ganz zu schweigen davon, was das für unser Budget bedeutet.« Reekie nahm die Schultern zurück. »Nichts für ungut, DI Spencer, aber ich glaube, das ist ein Fall für die Spezialisten.«
Er sah Spencers Augen an, dass er begriffen hatte. Es gab eine Möglichkeit für den Detective Inspector, sich endlose unbezahlte Überstunden und seinen Mitarbeitern den emotionalen Stress zu ersparen und sich die Medienmeute vom Hals zu halten. Spencer war kein Drückeberger, aber alle wussten, wie destruktiv sich solche Fälle auf die Gemüter auswirkten. Und wenn es Leute gab, die Lust hatten, sich mit derartigem Schmutz zu beschäftigen, war es ja auch nicht nötig. Außerdem gab es Vorschriften, die verlangten, dass solche Fälle abgegeben wurden.
Spencer nickte. »Ganz wie Sie meinen, Sir, ich kenne meine Grenzen.«
Reekie nickte und trat von den hellen Scheinwerfern und dem leisen Rascheln der Bewegungen am Tatort zurück. Er wusste genau, wen er anrufen musste.
5
D etective Chief Inspector Carol Jordan zog die untere Schublade auf der linken Seite ihres Schreibtischs heraus. Das war der Preis, den sie zu zahlen hatte für den Entschluss, Bradfield den Rücken zu kehren. Am Monatsende würde ihr bewährtes Spezialistenteam in alle Winde verstreut werden, und sie würde ihren Platz verlassen. Bis dahin musste jede Schreibtischschublade, jeder Aktencontainer, jeder Schrank in ihrem Büro ausgeräumt werden. Persönliche Dinge würde sie mitnehmen – Fotos, Postkarten, Mitteilungen von Kollegen, aus Illustrierten und Zeitungen herausgerissene Cartoons, die Carol und ihre Kollegen amüsiert hatten. Die berufsbezogenen Unterlagen musste sie irgendwo bei der Bradfield Metropolitan Police zu den Akten geben. Auch gekritzelte Notizen, die ohne den Zusammenhang der Ermittlungen, zu denen sie gehörten, keinen Sinn ergaben. Und es würde jede Menge Futter für den Aktenvernichter geben, all die losen Zettel, die niemand je wieder zu sehen brauchte. Der Rest ihres Teams hatte bereits Feierabend gemacht, doch sie war geblieben, um endlich einen Anfang zu machen.
Sobald sie die Schublade geöffnet hatte, überkam sie Trübsinn. Sie war vollgestopft mit Unterlagen zu diversen Fällen, die wie geologische Schichten übereinanderlagen. Fälle, die schockierend, erschreckend, bewegend und verstörend gewesen waren. Fälle von einer Art, wie sie wahrscheinlich nie wieder welche erleben würde. So etwas sollte sie nicht in Angriff nehmen, ohne sich zu stärken. Carol drehte sich mit ihrem Stuhl und griff in den mittleren Aktenschrank mit seinem wohlvertrauten Inhalt. Sie nahm sich eine der kleinen Wodkaflaschen, die sie aus den Minibars in Hotelzimmern und bei Zugfahrten oder Businessflügen gesammelt hatte. Sie schüttete die letzten Tropfen Kaffee in den Papierkorb, wischte die Tasse mit einem Papiertuch aus und goss den Wodka hinein. Es sah nicht nach viel aus. Sie griff sich ein zweites Fläschchen und goss es hinzu. Immer noch schien es nicht genug. Carol kippte den Wodka runter, fand aber, dass man das kaum als Drink bezeichnen konnte. Also leerte sie zwei weitere Minifläschchen in die Tasse und stellte sie auf den Schreibtisch.
»Nur etwas, um daran zu nippen«, sagte Carol laut zu sich selbst. Sie hatte kein Alkoholproblem. Was immer Tony Hill denken mochte, sie hatte die Kontrolle über den Alkohol, nicht umgekehrt. Es hatte in der Vergangenheit Zeiten gegeben, da war sie nahe dran gewesen, aber die hatte sie hinter sich. Wenn man sich freute, dass zwei Drinks die Dinge erträglicher machten, stellte das doch kein Problem dar. Sie wurde dadurch nicht an der Erledigung ihrer Arbeit gehindert. Es wirkte sich nicht störend auf ihre privaten Beziehungen aus. »Welche auch immer das sein mögen«, murmelte sie und zog einen Bündel Schriftstücke aus der Schublade.
Sie hatte sich durch einen so großen Teil des Stapels durchgearbeitet, dass das Klingeln des Telefons ihr wie ein Rettungssignal vorkam. Auf dem Display war eine Polizeinummer zu sehen, aber sie kannte sie nicht. »DCI Jordan«, meldete sie sich, griff nach der Tasse und war überrascht, dass sie schon leer war.
»Detective Superintendent Reekie von der Northern Division«, antwortete eine rauhe Stimme.
Carol kannte Reekie nicht, aber es musste etwas Wichtiges sein, wenn jemand so weit oben auf der Hierarchieleiter so spät am Abend noch bei der Arbeit war. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Wir haben hier etwas, passt genau zu Ihrem Team, glaube
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