Vergeltung
einfühlsamsten Leute erwähnten nie den Alptraum, den der Verlust der Stille bedeutete.
Morgen würde dieser Alptraum ausgeträumt sein. Er würde so leise oder so laut sein können, wie es ihm passte. Aber es würde sein eigener Lärm sein.
Na ja, zum größten Teil jedenfalls. Es würde andere Geräusche geben. Solche, auf die er sich freute. Die er sich gerne vorstellte, wenn er einen Ansporn brauchte, um weiterzumachen. Solche, von denen er schon länger träumte, als die Planung mit seiner Flucht zurückreichte. Die Schreie, das Schluchzen, das stammelnde Bitten um Gnade, die niemals kommen würde. Der Soundtrack zum Rachefeldzug.
Jacko Vance, der siebzehn junge Mädchen umgebracht und eine Polizeibeamtin im Dienst ermordet hatte, der einmal zum attraktivsten Mann des britischen Fernsehens gewählt worden war, konnte es kaum erwarten.
2
D er stämmige Mann stellte zwei randvolle Gläser mit kupferfarbenem Bier auf den Tisch. »Piddle in the Hole – piss ins Loch«, sagte er und ließ sich mit seiner breiten Gestalt auf einem Hocker nieder, der unter seinen Oberschenkeln verschwand.
Dr. Tony Hill zog die Augenbrauen hoch. »Soll das eine Herausforderung sein? Oder findet man das hier in Worcester witzig?«
Detective Sergeant Alvin Ambrose hob das Glas, um mit ihm anzustoßen. »Keins von beidem. Die Brauerei ist in einem Dorf, das Wyre Piddle heißt, deshalb meint man dort, auf diesen Namen Anspruch zu haben.«
Tony nahm einen großen Schluck von seinem Bier und schaute es dann nachdenklich an. »Na schön!«, sagte er. »Es ist ziemlich gut.«
Beide Männer widmeten dem Qualitätsgetränk kurz ein respektvolles Schweigen, dann meinte Ambrose: »Ihre Carol Jordan hat meinen Chef zur Weißglut gebracht.«
Selbst nach so vielen Jahren fiel es Tony immer noch schwer, sein Pokerface beizubehalten, wenn es um Carol Jordan ging. Aber es war eine Mühe, die sich lohnte. Erstens mal gab er nicht gern etwas preis, wenn’s nicht sein musste. Aber noch wichtiger war, dass es ihm immer unmöglich gewesen war, zu erklären, was Carol ihm bedeutete, und er hatte keine Lust, anderen die Gelegenheit zu falschen Schlüssen zu geben. »Sie ist nicht meine Carol Jordan«, sagte er gelassen. »Ehrlich gesagt, ist sie niemandes Carol Jordan.«
»Sie sagten, sie würde hier in Ihrem Haus wohnen, wenn sie die Stelle bekäme«, erwiderte Ambrose, ohne den vorwurfsvollen Ton zu unterdrücken.
Das war eine Enthüllung, von der Tony sich nun wünschte, er hätte sie nie gemacht. Es war ihm während einer der abendlichen Unterhaltungen herausgerutscht, die die merkwürdige Freundschaft zweier argwöhnischer Männer gefestigt hatten, die sonst nicht viel gemeinsam hatten. Tony vertraute Ambrose, aber das hieß nicht, dass er ihm Zutritt zum Labyrinth der Widersprüche und Komplexitäten seines Gefühlslebens gewähren wollte. »Sie wohnt bereits jetzt bei mir im Souterrain. Das ist doch kaum ein Unterschied. Es ist ein großes Haus«, antwortete er in unverbindlichem Ton, aber die Hand, mit der er das Glas hielt, verkrampfte sich leicht.
Ambrose’ Augenwinkel strafften sich ein wenig, aber der Rest seines Gesichts zeigte keine Regung. Tony vermutete, dass sein allzeit waches Polizistenhirn sich fragte, ob es sich lohnte, dies weiterzuverfolgen. Schließlich fügte Ambrose hinzu: »Und sie ist eine sehr attraktive Frau.«
»Das stimmt.« Tony hob Ambrose bestätigend sein Glas entgegen. »Und warum ist DI Patterson wütend auf sie?«
Ambrose zuckte mit einer seiner muskulösen Schultern, so dass sich die Naht seiner Jacke dehnte. Seine braunen Augen blickten nicht mehr so wachsam, denn jetzt befand er sich auf sicherem Terrain und konnte sich entspannen. »Das Übliche. Er hat seine ganze Dienstzeit in West Mercia verbracht, den größten Teil hier in Worcester. Als die Stelle des Detective Chief Inspector frei wurde, sah er sich schon befördert. Dann ließ Ihre … dann ließ DCI Jordan verlauten, dass sie an einer Versetzung von Bradfield weg interessiert sei.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Und wie hätte West Mercia es ihr abschlagen können?«
Tony schüttelte den Kopf. »Das weiß ich genauso wenig wie Sie.«
»Bei ihrer Erfolgsbilanz? Zuerst bei der Met, dann eine geheimnisvolle Aufgabe bei Europol, dann an der Spitze ihrer eigenen Spezialtruppe im viertgrößten Polizeiverbund des Landes, wo sie die Trottel von der Terrorismusabwehr auf ihrem eigenen Feld geschlagen hat … Im ganzen
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