Vergiftet
drückt seine Hand, hart und fest.
»So sehen Sie also aus«, sagt Pulli.
»Was haben Sie erwartet?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Die meisten sind befremdet, wenn sie meine Visage sehen.«
»Hab schon Schlimmeres erlebt.«
Pulli geht an Henning vorbei und nimmt auf dem Ledersofa unter dem Fenster Platz. Henning zieht einen Stuhl von der anderen Tischseite hervor und beobachtet Pulli, der den Teebeutel in dem dampfenden Wasser hin und her zieht. Seine Gesten sind wohlüberlegt und fast graziös. Er hat die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Auf dem rechten Unterarm ist die Tätowierung eines Frauenkopfs mit langem Haar zu sehen. Henning hat Pulli braun gebrannt in Erinnerung, jetzt ist er blass. Er schiebt die Schirmmütze zurück, kratzt sich seinen fast kahlen Schädel und setzt die Mütze wieder auf.
»Also«, sagt Pulli und schlürft vorsichtig von dem Tee. »Ich gehe davon aus, dass Sie …«
»Bevor wir dazu kommen«, unterbricht Henning ihn, »habe ich eine Frage. Oder: Es ist eigentlich weniger eine Frage als eine Bedingung. Wenn ich Ihnen helfe oder zumindest zu helfen versuche, müssen Sie mir erst etwas geben.«
Pulli stellt den Becher weg und lächelt zweifelnd.
»Ihnen etwas geben ?«
»Als Sie mich am Samstag angerufen haben, sagten Sie, Sie wüssten etwas über die Geschehnisse an dem Tag, an dem mein Sohn gestorben ist. Ich muss wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann, ob was dran ist an dem, was Sie sagen, oder ob Sie mir nur etwas vormachen.«
»Ich glaube, Sie haben da etwas missverstanden«, antwortet Pulli mit herablassendem Lächeln.
»Ganz und gar nicht. Sie wollen, dass ich Ihnen helfe. Ich will, dass Sie mir helfen. Geben Sie mir etwas, irgendwas, das ich nachprüfen kann, damit ich weiß, dass dort noch mehr zu holen ist.«
Pulli sieht Henning ungläubig an, ohne etwas zu sagen.
»Welche Garantie habe ich, dass Sie mir den Rücken kraulen, wenn ich zuerst Ihren kraule?«, fährt Henning fort.
»Mein Wort.«
»Ich habe keine Ahnung, wie viel Ihr Wort oder Ihr Ehrenkodex wert ist. Sie haben nichts zu verlieren. Und Sie sind zu mir gekommen, zu jemandem, der in den letzten Jahren nicht sonderlich aktiv war als Journalist. Und das wirft ein paar Fragen bei mir auf. Sie wissen, dass mein Sohn tot ist und dass es in meiner Wohnung gebrannt hat. Und Sie locken mich mit einer sehr großen Mohrrübe. Wie kann ich wissen, ob Sie mich nicht nur ausnutzen, weil Ihnen die Farbe der Wände hier drinnen nicht mehr passt? Ich möchte wissen, ob Sie mich auszunutzen, Pulli.«
Pulli nimmt einen Schluck von dem Tee und stellt den Becher beiseite. »Wenn ich Ihnen jetzt alles sage, was ich weiß, haben Sie keinen Grund mehr, mir zu helfen.«
»Wenn Sie unschuldig sind, schon. Ich habe etwas gegen Justizmord.«
Pulli lächelt wieder. »Ich habe nicht sonderlich viel Zeit.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn ich Ihnen sage, was ich weiß, werden Sie der Spur bis an ihr Ende folgen und mich unterwegs vergessen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass Sie es bis dahin schaffen oder so lange überleben werden.«
Henning sieht Pulli an. »Wir reden also über gefährliche Leute?«
»Was glauben Sie denn? Sie können mir nicht helfen, wenn Sie tot sind, und ich habe nicht mehr viel Zeit. Mein Verfahren wird bald wiederaufgenommen.«
»Okay, ich verstehe, was Sie meinen. Aber …«
»Es hat geregnet«, sagt Pulli. »An diesem Tag.«
Henning sieht ihn an, dann schnauft er.
»Danke, das weiß ich auch. Das hätte mir jeder sagen können.«
»Ich habe an dem Abend in einem Auto vor Ihrer Wohnung gesessen. Die Scheibenwischer gingen ohne Unterlass.«
»Warum haben Sie dort gesessen?«
»Das ist nicht so wichtig. Und die Frage lautet auch nicht, warum ich das getan habe.«
»Und was ist dann wichtig?«
»Dass ich gesehen habe, wie jemand, der dort nichts zu suchen hat, Ihren Innenhof betreten hat.«
Hennings Magen zieht sich zusammen. »Woher wissen Sie, dass er dort nichts zu suchen hatte?«
»Weil ich weiß, wer er ist.«
Henning richtet sich auf. »Und wer ist er?«
Pulli lächelt. »Guter Versuch, aber das muss reichen.«
»Verdammt, nein. Woher wissen Sie, dass er dort nichts zu suchen hatte?«
Pulli seufzt. »Weil er nicht dort wohnte und, soweit ich weiß, dort auch niemanden kannte. Es war schlicht und einfach nicht seine Wohngegend.«
»Aber er kannte mich und wusste, wer ich bin?«
Pulli wendet den Blick ab und nimmt einen Schluck von seinem Tee.
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