Vergiftet
nach willigen Interviewobjekten für die schwachsinnigen Fragen war, die sie sich in der Redaktion ausgedacht hatten, aber wenn er für diese Rubrik unterwegs gewesen ist, dann immer für die Ausgabe am nächsten Tag.
Vielleicht hat Elisabeth ja recht. Vielleicht haben sie es auf die Abendausgabe verschoben oder auf später in der Woche. Er bückt sich nach den Butterbrottüten.
»Hast du bei der Alarmfirma angerufen?«, fragt Elisabeth.
»Hm?«
»Die Alarmanlage. Wir müssen uns darum kümmern.«
»Ach ja. Nein, hab ich vergessen.«
»Dann vergiss es heute nicht wieder.«
27
Es sind durchschnittlich dreihundertzweiundneunzig Menschen im Osloer Gefängnis inhaftiert, verteilt auf die Abteilungen Botsen, Bayeren und Stifinner’n – auch knapp die Abteilungen A, B und C genannt. Henning muss ins Botsen, eine Abteilung, die aus einem Hauptgebäude mit fächerartig angeordneten Flügeln besteht, ergänzt durch einzelne kleinere Gebäude. Alles in Backstein. Das Hauptgebäude und vor allem der Haupteingang sind den Norwegern durch die Filme über die Olsen-Bande vertraut, die eine Zeit lang immer damit begannen, dass Egon Olsen nach abgesessener Strafe aus der Pforte trat und die Allee hinunterspazierte, wobei er in Gedanken bereits den nächsten Einbruch plante.
Hennings Puls beschleunigt sich, als er nun den umgekehrten Weg geht. Normalerweise macht ihn ein Interview oder eine Verabredung nicht nervös, aber heute schon.
Heidi Kjus hat das Pulli-Interview begrüßt und, wie zu erwarten war, gesagt, dass sie das selbst gerade vorschlagen wollte, was ihr keiner beim Morgenmeeting – nicht einmal Iver – abgekauft hat. Aber daran verschwendet Henning keinen Gedanken mehr, als er an der Gefängnistür klingelt und sich vorstellt. Sekunden später gleitet die Tür auf. Dahinter wird Henning von einem Mann in Jeans und verwaschenem Jeanshemd in Empfang genommen, der sich als Knut Olav Nordbø vorstellt. Das kurz geschnittene, graubraune Haar ist mit einem akkuraten Seitenscheitel frisiert. Das Gesicht ist bartlos, die Haut leicht gerötet und von Leberflecken und Muttermalen übersät. Henning riecht Nikotin und Rotwein.
Er wird durch eine alte Tür geschleust und über eine Treppe nach unten geführt, wo er seine Jacke aufhängt. Nachdem er sein Handy und den Presseausweis abgegeben hat, verschwindet Nordbø in einen angrenzenden Raum. Gleich darauf kommt er mit einem Besucherausweis zurück, den Henning sich ans Hemd klemmt.
»So«, sagt Nordbø zufrieden und begleitet Henning weiter durch zwei schwere Betontüren in die Besuchsräume.
»Das war alles?«, fragt Henning. »Keine Leibesvisitation? Nichts weiter?«
»So sind die Regeln«, sagt Nordbø. »Im Strafvollzugsgesetz steht, dass alle Insassen das Recht haben, Vertreter der Presse zu treffen, um ihr Anliegen vorzubringen. Das System beruht auf Vertrauen.«
»Dann könnte ich im Prinzip sonst was mit mir hier reinschmuggeln?«
»Könnten Sie, ja. Aber uns ist natürlich daran gelegen, dass Sie das nicht tun.« Nordbø lächelt. »Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden wollen, hole ich jetzt Tore.«
»Okay.«
Henning tritt in einen kleinen, beengten Besuchsraum mit grauem Linoleumboden, gelben Wänden und einem lang gestreckten Fenster mit weiß-grünen Gardinen. Unter dem Fenster steht eine große, staubige Pflanze neben einem schwarzen Ledersofa. In einer Ecke des Raums befindet sich eine kleine, kümmerliche Kiste mit Plastikspielsachen. Henning öffnet die Tür des grünen Hängeschranks, in dem sich mattgrüne Laken und Handtücher stapeln.
Bald darauf hört er Schritte. Nordbø tritt als Erster ein.
»Dann lass ich euch mal allein«, sagt er mit einem Lächeln und macht einem Schrank von einem Mann Platz. Hennings Magen zieht sich zusammen, und er muss sich beherrschen, den Mann nicht augenblicklich mit seinen Fragen zu bombardieren.
Tore Pulli ist nicht wiederzuerkennen. Er muss mindestens fünfzehn Kilo abgenommen haben und geht bedächtig. Die rote Schirmmütze passt nicht zu dem grünen Hemd und der blauen Trainingshose.
Henning macht einen Schritt nach vorn und denkt an das, was er in letzter Zeit über Tore Pulli recherchiert hat. Geldeintreiber, Unternehmer, Freund, Lügner. Wen davon hat er jetzt vor sich?
Pulli nimmt einen dampfenden Becher von der rechten in die linke Hand und streckt Henning die frei gewordene Hand entgegen. Er greift danach, ohne den Blick abzuwenden.
»Hallo«, sagt er. »Henning Juul.«
Pulli
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