Vergiftet
mich acht Mal angerufen?«
»Weil … weil ich dich um einen Gefallen bitten wollte«, sagt er.
»Ja, natürlich, aber …«
»Kannst du heute die Kinder holen? Ich komme vermutlich später nach Hause.«
»Hallo? Das mache ich doch jeden Tag! Was ist denn mit dir los? Du musst mich doch nicht acht Mal anrufen, um mich um etwas zu bitten, das ich sowieso tue? Hast du jetzt komplett den Verstand verloren?«
»Nein, es ist nur …«
Er schüttelt über sich selbst den Kopf. »Fahr vorsichtig, okay?«
»Fahr vorsichtig? Mein Gott, Thorleif, du sitzt im Auto, nicht ich! Mensch, was ist denn bloß los?«
»Nichts, das sollte ein Witz sein«, sagt er eilig und hofft, sie damit überzeugen zu können.
Sie seufzt. »Wann kommst du nach Hause?«
»Ich weiß nicht so genau.«
»Okay, wenn es später als fünf wird, fangen wir schon mal an zu essen.«
»Ist gut. Bis später dann. Ich …«
Er bringt den Rest des Satzes nicht über die Lippen und bereut gleich darauf das ganze Gespräch. Er hätte sie warnen, sie bitten müssen, wachsam zu sein, immer und überall. Aber was, wenn sie sein Telefon abhören? Oder ihre beiden Telefone? Sie müssen auch bei ihnen zu Hause gewesen sein, sonst hätte der Mann nichts von den Splittern im Fußboden gewusst. Thorleif wird übel, als er daran denkt, was der Mann sonst noch gesagt hat. Die Kinder. Ihre Leben.
Ich kann mit niemandem darüber reden, denkt Thorleif. Es geht einfach nicht, ich darf dieses Risiko nicht eingehen. Aber wie soll ich aus diesem verfluchten Albtraum herauskommen? Ich kann nicht einfach tun, was sie verlangen, dann bin ich der Nächste. Denn sie werden mich sicher umbringen, wenn ich erst getan habe, was sie von mir verlangen. Erst töten und dann selbst sterben. Nein, sagt er zu sich und spürt, wie sein Fuß das Gaspedal durchdrückt.
Ich muss irgendeine Lösung finden.
40
Das Vinmonopol im Einkaufszentrum Grønland Basar ist wie immer ziemlich leer. Henning bezahlt die zwei Flaschen St. Hallvard und tritt hinaus in den Duft all der Gewürze, der immer über diesem Stadtteil hängt. Sein letztes Gespräch mit Pulli geht ihm noch einmal durch den Kopf. Das muss ich mir nicht antun, wiederholt Henning im Stillen. Am Telefon hat er das wirklich so gemeint. Er will seine Zeit nicht mit einem Mann vergeuden, der es gewohnt ist, seinen Willen zu bekommen, und der laut Irene Otnes gerne die Unwahrheit sagt. Andererseits weiß er aber auch, dass er niemand anderen hat. Vielleicht denkt Pulli bis zum nächsten Mal ja darüber nach, denkt Henning.
Wie immer sitzt seine Mutter am Küchentisch mit einer Zigarette zwischen den Fingern. Im Aschenbecher vor ihr qualmt noch die davor gerauchte Kippe.
»Hallo, Mama«, ruft er und versucht, den Lärm des Radiosenders zu übertönen. Losing my Religion , registriert Henning, zum Gott weiß wievielten Mal. »Wie geht es dir?«
Sie hebt den Blick von der Zeitung, und aus ihrem Gesicht strahlt Verärgerung. »Sieh mal!«, schnaubt sie. »Sieh mal, was sie mit meiner Aftenposten gemacht haben!«
Henning geht in die Kochecke und stellt die Schnapsflaschen ab. Die Zeitung ist im unteren Teil zerknittert.
»So was Dummes«, ruft er und versucht, das Papier zu glätten. Sie fegt seine Hand mit einer verächtlichen Bewegung weg. R.E.M. kommt zum Ende, und eine aufdringliche Radiostimme hallt durch das Zimmer.
Christine Juul sieht ihn an. »Hast du mir was mitgebracht?«
»Hab ich.«
»Kannst du …«
Sie deutet mit der Hand in Richtung Schrank. Henning öffnet ihn und nimmt ein Glas heraus. Er entkorkt die erste Flasche und will ihr die lindernden Tropfen in ihr Glas schütten, als er innehält.
»Das Glas ist ja ganz dreckig, Mama.«
Ihr Blick zuckt zur Seite, und sie sieht ihn an, antwortet aber nicht.
Henning dreht den Wasserhahn auf, wartet, bis warmes Wasser kommt, und spült das Glas. Als er es abtrocknen will, fällt ihm auf, dass das Handtuch ganz nass ist. Er riecht daran und rümpft angeekelt die Nase. Mama braucht jemanden, der ihr zur Hand geht, denkt er. Jemanden, der ihr bei den grundlegendsten Sachen hilft. Sie kommt allein nicht mehr zurecht. Oder es ist ihr mittlerweile alles egal. Was davon schlimmer wäre, weiß er im Moment nicht zu sagen. Und seine Schwester Trine hat keine Möglichkeit, von ihrer kostbaren Justizministerinnenzeit ein klein wenig zu erübrigen.
Henning stellt das Glas vor seine Mutter und bemerkt die Frauenzeitschrift, die aufgeschlagen neben ihr liegt. Wieder ein Artikel
Weitere Kostenlose Bücher