Vergiftet
Erinnerung wieder da. Er weiß mit einem Mal sogar wieder, wie die Hütte innen aussieht. Rohe Kiefernholzwände, Kiefernmöbel, eine kleine, enge Küchennische und eine Sofaecke mit roten Kissen. Wachstuch und quadratische Fenster mit rot-weiß karierten Gardinen.
Bestimmt sieht es immer noch genau so aus, denkt er und blickt sich noch einmal um. Das Gebäude sieht verlassen aus, und auch in den Hütten ringsherum scheint zurzeit niemand zu sein. Er geht näher, bleibt stehen und sieht durch einen Spalt in der Gardine in die Küche. Er ist noch nie irgendwo eingebrochen, hat in seinem ganzen Leben noch nie gegen irgendein Gesetz verstoßen. Es widerstrebt ihm, das jetzt noch dazu bei jemandem tun zu müssen, den er kennt. Andererseits würden Einar und seine Familie das sicher verstehen.
Er geht um das Haus herum auf die Rückseite. Einar hat ihm damals erzählt, dass die Familie Fløtaker einmal, als sie das Osterfest hier verbringen wollte, den Schlüssel vergessen hatte. Ein lokaler Schlüsseldienst hatte für ein saftiges Honorar dafür gesorgt, dass doch noch etwas aus diesen Osterferien wurde. Einars Vater, ein Geizkragen, gelobte, nie wieder in eine solche Situation zu kommen, und baute für Krisenfälle einen alternativen Zugangsweg zur Hütte. Aus dem nie verschlossenen Holzschuppen zweigte ganz hinten eine kleine Tür in die Werkzeug- und Vorratskammer unter der Hütte ab, durch die man wiederum über eine mit einem Vorhängeschloss verschlossene Falltür in die Küche gelangen konnte. Und der Schlüssel für dieses Vorhängeschloss – daran erinnert Thorleif sich jetzt – liegt in einer rostigen Dose.
Thorleif legt seine Hand auf die Klinge des Holzschuppens und zieht die Tür mit einem Ruck auf. Er sieht sich ein letztes Mal um, bevor er hineingeht. In den Regalen hinter der nächsten Tür liegen Skiwachs, Skistöcke, Schneeschuhe, Spaten und Eimer mit den unterschiedlichsten Werkzeugen. Dann sieht er die Dose. Rostig und vielversprechend. Er nimmt sie vom Regal und schüttelt sie.
Der Schlüssel ist da.
Zum ersten Mal seit vielen Tagen lächelt er.
53
Henning sitzt in seinem mittlerweile ziemlich verschlissenen Stressless-Sessel, den Laptop auf dem Schoß. Ein Bein hat er auf einen kleinen Schemel hochgelegt. Er hat die Wunden unter seinem Fuß gereinigt, eine sterile Kompresse aufgelegt und glaubt, bereits den einsetzenden Heilungsprozess zu spüren.
Die letzten Stunden liegen in einem dichten Nebel. Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist das Gespräch mit Iver. Danach dann der Moment, als er auf der Treppe zu sich kommt. Es ist nicht das erste Mal, dass sein Körper einen solchen Kurzschluss produziert. Was zum Henker ist bloß los mit ihm?
Es ist bald 18.30 Uhr, weshalb er den Fernseher einschaltet. Kurz darauf wird die Werbung von der Erkennungsmelodie der Nachrichten von TV 2 abgelöst. Er stellt den Ton lauter, als er Tore Pulli in derselben Türöffnung sieht, in der auch er selbst ihn vor wenigen Tagen stehen sah. Mit eindringlicher Stimme berichtet eine Frau, dass der des Mordes verurteilte Tore Pulli heute tot im Osloer Gefängnis zusammengebrochen sei. Das Bild verschwindet, während die Musik noch einen Zahn zulegt, um dann zu verstummen. Weitere Themen werden präsentiert, aber Henning hört nicht zu, sieht nur verkeilte, rauchende Wagen eines Zuges. Ein letztes Thema, fünf Sekunden, um die Neugier der Zuschauer anzustacheln, ehe ins Studio geschaltet wird und Mah-Rukh Ali die Zuschauer zu der aktuellen Nachrichtensendung willkommen heißt. Henning dreht den Ton noch etwas lauter.
»Der frühere Geldeintreiber Tore Pulli ist heute Vormittag während Interviewaufnahmen von einem Team des Senders TV 2 im Osloer Gefängnis tot zusammengebrochen.«
Ali blickt in die Kamera. Der Beitrag beginnt, aber es werden keine Bilder aus dem Gefängnis gezeigt. Stattdessen wechseln sie gleich zu einem grünen Bildschirm, auf dem der PR -Beauftragte Knut Olav Nordbø neben einem Telefon zu sehen ist. Er unternimmt den nervösen Versuch, dem norwegischen Volk zu erklären, was geschehen ist, kann im Moment aber noch nichts über die näheren Umstände des Todes bekannt geben.
Dann wird ein Reporter gezeigt, der mit einem Mikrofon in der Hand draußen vor den Gefängnistoren steht. Er wiederholt die Fakten, ehe er sich an den Gefängnischef Børre Kolberg wendet, aber auch der Leiter des Gefängnisses gibt keine weiteren Details preis.
Dann ist wieder Mah-Rukh Ali zu sehen. Sie kündigt
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