Vergiftet
und klammert sich an das Lenkrad. Seine Gedanken fahren Achterbahn. Was zum Teufel soll er machen? Er kann doch nicht mit Absicht jemanden überfahren?
Sie kommen an einem Haus vorbei, dann an einem Schild, das für eine Skulpturenausstellung wirbt.
»Da wohnt jemand«, ruft Thorleif.
»Das macht nichts.«
»Und wenn uns jemand sieht? Was, wenn hinter uns ein Auto kommt? Oder von vorn?«
»Denken Sie an Ihre Frau. Denken Sie daran, was wir mit ihr machen werden, wenn Sie den Mann da nicht überfahren.«
»Ich kann das nicht«, ruft er.
»Verdammt, und ob Sie das können!«
Thorleif schießen Tränen in die Augen, er sieht kaum noch etwas. Er versucht, die Flüssigkeit wegzublinzeln, aber es kommen immer mehr Tränen, und er kriegt keine Luft mehr. Der Motor gibt ein Brüllen von sich, als er sich dem Jogger nähert. Auf beiden Seiten des Weges öffnet sich Ackerland, es riecht nach Zwiebeln, schrecklich nach Zwiebeln, sein Herz rast, sprengt fast seinen Brustkorb. Dann hört er seinen eigenen Schrei und sieht, wie seine Hände das Lenkrad zum Jogger drehen. Ich fahr dich über den Haufen, denkt er, ich fahr dich verdammt noch mal über den Haufen!
Er kneift die Augen zu, wartet, dass es knallt, wenn er den Menschen anfährt, ihn überrollt, tötet. Aber der Knall bleibt aus. Die Reifen bleiben auf dem Asphalt, fahren zu keinem Zeitpunkt über den Straßenrand hinaus, neben dem ordentlich aufgereiht Tausende von Zwiebeln liegen. Thorleif reißt die Augen auf. Wenige Meter vor ihm windet sich die Straße in einer S-Kurve, sie rasen direkt auf einen Acker zu, ein Feld mit Kartoffeln. Panisch versucht Thorleif, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen, die Reifen quietschen, als das Auto am Anfang der Kurve nach links ausbricht. Seine Hände umklammern das Steuer, lenken gegen, korrigieren, wieder und wieder. Er atmet stoßweise, keuchend und sieht im Rückspiegel, dass der Jogger stehen geblieben ist und wütend mit geballter Faust hinter ihnen herwettert.
Du hast versagt, denkt Thorleif. Du hast versagt, du hast nicht alles getan.
Er starrt den Mann an, der eine Nummer in sein Handy eingibt und es ans Ohr hält.
»Hallo, ich bin’s«, sagt er und mustert Thorleif mit kühlem Blick. »Ist nicht gut gelaufen. Bring seine Frau um.«
37
Der Schlüsselbund, den Henning von der Redaktionschefin Ida Caroline Ovesen bekommen hat, klirrt in seinen Händen. Einer der Schlüssel soll zu dem Schloss des Lagerraums unten im Keller passen, in dem während der Renovierung alles überschüssige Material bis auf Weiteres untergebracht worden ist, um später noch Zugriff darauf zu haben, falls es noch einmal gebraucht würde. »Wahrscheinlich bleibt das Zeug bis zum Sankt Nimmerleinstag da unten«, wie Ida meinte.
Sie hat keine Ahnung, wo sich seine Kassetten befinden könnten, die Umbauphase soll ziemlich chaotisch und unübersichtlich gewesen sein, da sich viel zu viele Leute an den Räumungsarbeiten beteiligt hatten. Dieser Eindruck bestätigt sich, als Henning den bis zum Rand mit Stühlen, Tischen, ausrangierten Computern, Kisten mit Kabeln, Mäusen und Mousepads, Aktenordnern und Regalen, Schreibtischen und Sichtgeräten vollgestopften Raum betritt.
Er schiebt einen Stuhl beiseite, gräbt sich bis zum ersten Schreibtisch vor und zieht die Schubladen auf, eine nach der anderen – aber alle sind leer. Dummerweise sehen alle Schreibtische gleich aus, und keiner trägt seinen Namen oder den eines Kollegen. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als sich jeden einzelnen vorzunehmen und auf ein kleines bisschen Glück zu hoffen. Er schlägt die Schneise tiefer in den Raum hinein, nimmt sich Schublade um Schublade vor und knallt sie heftig wieder zu. Bald hat er einen Rhythmus gefunden, aber ein greifbares Resultat bleibt trotzdem aus.
Er überlegt, wo er die Kassetten aus seinem Schreibtisch gelagert hätte, wenn er seinen Schreibtisch damals selbst ausgeräumt hätte. Hätte er sie in einen Karton gepackt? Oder mit Klebeband zusammengeschnürt? Zehn Minuten später hat er alle Kartons ausgekippt, aber nicht eine einzige Kassette gefunden.
Er sieht sich um. Ganz hinten, hinter noch mehr Kartons, stehen unbehandelte Kiefernholzregale, in denen sich alte Bürorequisiten stapeln, Briefbogen mit dem alten 123nyheter -Logo, Umschläge, Stifte, sogar Regenschirme und weiße T-Shirts. Henning arbeitet sich weiter vor, steigt über einen verstaubten Computerbildschirm und beginnt in Augenhöhe, das Regal abzusuchen.
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