Vergiftet
geht auf die Beifahrerseite des BMW, öffnet die Tür und wirft Thorleif die Schlüssel zu. Ungeschickt fängt er sie auf.
»Soll ich fahren?«
»Wir wollen wissen, was in Ihnen steckt!«, sagt der Mann so laut, dass seine Stimme zwischen den Wänden widerhallt. »Los geht’s.« Er grinst breit.
36
Stavern liegt hinter ihnen, und sie fahren an Pferdekoppeln, Zwiebelfeldern und einer Freikirche vorbei, ehe Thorleif die Anweisung erhält, an der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Seite eines etwa einem Meter hohen Maisfelds zu halten. Vor ihnen breitet sich, weit weg am Horizont, der Skagerak bis nach Dänemark aus. Weiße Streifen auf der Wasseroberfläche jagen großen und kleinen Schiffen hinterher. Über ihnen ziehen weiße und bleigraue Wolken vorbei.
»Soll ich den Motor ausschalten?«, fragt Thorleif. Die Sonne scheint auf die Fenster.
Der Mann neben ihm mustert eine alte Garage mit rostigen Fensterrahmen und schwarzem Blechdach. Er dreht sich mit dem ganzen Oberkörper zu Thorleif um. »Am Anfang unseres Ausflugs habe ich Sie gefragt, welchen Weg Sie wählen, erinnern Sie sich?«
»J-ja.«
Der Mann zeigt nach vorn, wo der Weg in einem weiten Bogen nach links führt.
»Ein paar hundert Meter weiter kommen wir an eine Kreuzung. Sie können dort nicht rechts abbiegen, es geht eher geradeaus, aber ich frage Sie trotzdem: rechts oder links?«
»Was?«
»Rechts oder links?«
»Aber …«
»Rechts oder links?«
»Ich weiß es nicht! Welchen Weg soll ich wählen?«
»Sie wissen doch noch, was ich heute Morgen gesagt habe? Ich frage Sie also ein letztes Mal: rechts oder links? Links – stirbt Ihre Frau. Rechts – können Sie weiter …«
»Rechts«, antwortet Thorleif rasch. »Ich fahre nach rechts, okay? Können Sie mir nicht einfach sagen, wohin ich fahren soll? Ich tue alles, was Sie sagen. Ich will nicht, dass meiner Frau etwas passiert! Meiner Freundin!«
»Gut, Toffe, diesen Gedanken sollten Sie im Kopf behalten. Sie tun alles , damit Ihre Frau – Freundin – nicht stirbt. Schön. Dann fahren Sie los. Folgen Sie der Straße 301.«
»Wohin?«
Der Mann antwortet nicht. Thorleif seufzt, biegt wieder in die Straße ein, beschleunigt gemächlich auf sechzig und folgt der lang gestreckten Kurve nach links, auf das Vorfahrtsschild zu. Auf der kurzen, schmalen Steigung gibt er Gas. Die Straße schlängelt sich erst durch dichten Wald und führt dann zwischen Zwiebel- und Kartoffeläckern hindurch. Es gibt keinen Gegenverkehr. Thorleif klammert sich an das Lenkrad. Rechts gehen kleine Straßen ab, die zu Höfen oder kleinen Ortschaften führen, die er jedoch nicht sehen kann.
»Halten Sie da drüben an.«
Der Mann zeigt auf einen graubraunen Lattenzaun, der einen Friedhof einrahmt. Grabsteine ragen aus der gepflegten Rasenfläche auf. Thorleif bleibt zwischen zwei Birken stehen, deren Äste Schatten werfen.
»Wohin geht es jetzt?«, fragt Thorleif.
»Jetzt warten wir. Sie können den Motor so lange ausstellen.«
Sie sitzen etliche Minuten in vollkommener Stille nebeneinander. Dann kommt das Rauschen eines Autos näher. Eine schwarze Katze läuft am Wegrand entlang, ehe sie im Unterholz zwischen Ebereschen verschwindet. Das Auto rauscht an ihnen vorbei. Es wird wieder still. Kurz darauf kommt ein Traktor. Zwei Radfahrer. Thorleif registriert, dass der Mann ihnen besonders lange mit dem Blick folgt.
Plötzlich beugt er sich vor und sagt: »Perfekt.«
»Was?«
»Sehen Sie in Ihren Seitenspiegel.«
Hinter ihnen kommt in gemächlichem Tempo ein Mann in dunkelblauen Sporthosen, einer blauen Jacke und mit Kopfhörern auf den Ohren angejoggt.
»Warten Sie, bis er vorbei ist.«
Thorleif wartet, folgt dem Jogger im Spiegel, sieht ihn vorbeilaufen. Der Jogger sieht sie nicht an, verschwindet hinter der nächsten Kurve. Es vergehen ein paar Minuten.
»Okay, jetzt können Sie losfahren.«
»Wo geht es hin?«
»Tun Sie einfach, was ich sage.«
Der Motor heult auf.
»Was soll ich denn tun?«
»Fahren Sie. Schneller!«
Thorleif tritt das Gaspedal weiter durch, sodass der Wagen nach vorn schießt. Hinter der nächsten Kurve taucht der Jogger wieder auf. Er befindet sich am Ende eines langen, sanft abfallenden Weges, der sich wie eine Schlange windet.
»Schneller!«
Der Mann beugt sich vor.
»Warum?«
»Weil Sie ihn überfahren sollen.«
» Was ?«
»Sie sollen ihn überfahren.«
»Ich kann den Mann doch nicht einfach überfahren! Dann stirbt er!«
»Schneller!«
Thorleif gehorcht
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